Sowohl der Text wie die Musik zu „Les Mamelles de Tirésias“ stammen mitten aus dem Krieg – das Drame surréaliste Apollinaires aus dem ersten Weltkrieg (aus dem Paris des Jahres 1917), die Musik von 1944 und ebenfalls aus der französischen Hauptstadt, aus dem von der Wehrmacht besetzten Paris. In zumindest ironischer Weise geht es in dieser an Hervé anknüpfenden Opéra-bouffe darum, die kriegsbedingten „Ausfälle“ auf den Konten des „Humankapitals“ durch verstärkte Zeugungsanstrengungen und Empfängnisbereitschaft zu kompensieren.
Als Francis Poulencs erstes Bühnenwerk 1947 an der Opéra-Comique uraufgeführt wurde, erschien es alles andere als willkommen, wurde vom Publikum mit einem Konzert von Tierlauten quittiert und von der Fachkritik zerfetzt: Dem Werk fehlte nicht nur jede patriotische Gesinnung, sondern es machte sich auch mit treffsicheren Pointen über die Hollandes und Merkels von damals her. Es schien den Krieg als Vater aller Dinge insgesamt nicht hoch und hehr zu schätzen und die für ihn von den kleinen Leuten zu erbringenden „Opfer fürs Vaterland“ zu missbilligen, zumindest heiter zu problematisieren. – Im Zuge einer Kooperation zwischen den Festivals in Aldeburgh und Aix-en-Provence kamen „Die Brüste des Tiresias“ jetzt nach Brüssel, wo derzeit an den 100. Jahrestag der erfolgreichen Umsetzung des Schlieffen-Plans erinnert wird, mit dem das neutrale Belgien zwecks effektiverem Angriff auf den „Erzfeind“ Frankreich von der deutschen Reichswehr überrannt und niedergewalzt wurde. Das ist ein guter Zeitpunkt, das unbequeme und zumindest subkutan pazifistische Stücke in Erinnerung zu rufen – und überhaupt ein guter Auftakt des Opernjahrs 2014.
Die dramaturgisch völlig inkonsistente Geschichte der Hausfrau Thérèse, die ihre Brüste wie Luftballons platzen lässt, sich emanzipieren und dem Vaterland weiters kein Kanonenfutter mehr bescheren will, schließlich auch nicht mehr als Kartenlegerin für Lebensmittelkarten tätig sein möchte, sondern sich unideologisch an die neuerliche Pflege der Liebe macht – dieses kleine filigrane Wunderwerk des Wortwitzes und der Montage-Musik erschien jetzt in der Brüsseler Salle Malibran. Und zwar in der verschlankenden Bearbeitung des entschieden pazifistisch gestimmten Benjamin Britten. Der reduzierte 1958 für sein Musikfestival in Aldeburgh die groß besetzte und orchestrierte Opéra bouffe auf ein Dutzend Gesangspartien und zwei Flügel. Das schärft die Musik und deren Geist in Bezug auf ein Thema, das aus guten Gründen gerade wieder virulent erscheint.
Denn bereits in diesen Tagen wird (in vorauseilendem Gehorsam und Geschäftssinn) der erst Anfang August anstehende 100. Geburtstag des ersten Weltkriegs aus vollen Rohren gefeiert. Das Feuilleton suhlt sich in Hinweisen auf die Realisierbarkeit einer rasch erfolgreichen Offensivstrategie, an der die tonangebenden Kräfte in den Schurkenstaaten glaubten, die im August 1914 aufeinander losgingen. Selbst die deutsche Musikforschung hat das neue deutsche Kriegsfieber erreicht – in einem knapp 700 Seiten dicken Sammelband zur Musik in der Ära des Stellungskriegs erwähnt der französische Kollege François Genton zwar außer den Liedern und Gesängen zur Mobilisierung und zum Durchhalten auch kriegsgegnerische, antimilitaristische oder anarchistische Stücke; er hebt mithin hervor, dass es nicht nur Begeisterung für, sondern auch Einwände gegen und Hass auf den Krieg gab. Von dergleichen sind die in breiter Front angetretenen deutschen Beiträge freigehalten worden – da erscheint die musikalisch aufgeschäumte Zustimmungskultur ohne Alternative. Also auch keine Hinweise auf Busoni, auf Albert Schweitzer (der sich 1914 längst einen Namen als Organist und Bachforscher gemacht hatte) oder auf Ernst Bloch, der sein weithin der Musik gewidmetes Buch „Geist der Utopie“ im Schweizer Exil schrieb.
Bei dieser nachträglich konstruierten Homophonie ist nicht zu übersehen, dass sich jüngere AutorInnen schwer tun mit dem „rein musikalischen“ Niveau dessen, was 1914 und in den Jahren danach in den ländlichen Turn- und Festhallen, auf Bahnhofsvorplätzen und zum Teil auch in Theatern intoniert wurde.
Aus diesem Humus der mehr oder minder kriegsbegeisterten Trivialmusik stammt so manches Versatzstück, das Francis Poulenc der Literatur-Operette anverwandelte, die er auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkriegs zu Papier brachte – versehen mit einem Prolog, der den von Leoncavallos veristischen „Pagliacci“ parodiert. Ja, hier gilt es nicht dem Opern-Realismus, sondern dem der Oper so weitgehend fremd gebliebenen Surrealismus. Immerhin geht es um wiederholte Geschlechtsumwandlungen, radikale (aber vergeblich bleibende) Versuche der Frauenemanzipation und um die solipsistische Hervorbringung von 40.000 Babys an einem einzigen Tag – der von Thérèse frustrierte Ehemann legt selbst Hand an und zahlt dem Vaterland gleichsam heim, was ihm im häuslichen Bett versagt bleibt. Das ist eine Erklärung für manches – und die Idee der Junggesellenzeugung eine der brillantesten Kommentare zum fortschwärenden Glauben an die Jungfrauengeburt.
Die Wortspiele sind von französisch feiner Textur; zum Beispiel passiert im imaginären Zansibar an der Zanzi-Bar durch den Geldabfluss beim Würfelspiel so etwas wie in Paris, wo die Seine stets passiert.
Vertonung als Betonung: Poulenc schrieb eine durchgängig neoklassizistisch gestylte Folge von kurzen, konzisen Nummern mit einer Fülle von musikliterarischen Anspielungen. Häufig greifen die auf Abwechslung bedachten Abschnitte semantisch besetztes musikalisches Material auf – vom Walzer, der Polka oder dem Militärmarsch über „Tristan“-Allusionen bis hin zum „Fühlst-Du-mein-Herz-schlagen“-Schlager und zum Choral oder dem silbernen Operetten-Finale. Instinktsicher verwandelte sich das alles einem luziden Instrumentalsatz an. Die Singstimmen changieren zwischen womöglich ironischer Schlichtheit und Repetitorium der schönsten Floskeln des Repertoires. Sie werden von einem bestens aufeinander eingespielten Team bravourös absolviert – von der irischen Sopranistin Aoife Miskelly mit den stechend scharfen Spitzentönen als Thérèse über Jean-Jacques L’Anthoën als deren Gatte mit vorzüglichem Verwandlungstalent und sympathischem Tenor bis zum Gendarmen Guillaume Paire, der aussieht, als wäre er just aus dem Film „Irma la Douce“ abkommandiert. Die ganzen quirligen Szenen gehen vor einer Theke über die Bühne, an der sich die Gäste der Bar Sansibar in Stimmung trinken, und die sich dreht, um Thérèse und ihrem Softi-Mann als Küchenzeile zu dienen. Die sehr sorgfältig gearbeiteten Klavierpartien, die durchaus eigenständige virtuose Momente entwickeln, werden von Roger Vignoles und Philippe Riga so kompetent wie locker und elegant absolviert. Dazu gibt es eine pflegeleichte Inszenierung voll französischem Temperament und britischer Turbulenz (ein paar Herren-Gags haben bei diesem Produkt gleichsam Heimspiel).
„Les Mamelles de Tirésias“ – das ist eine der glücklichsten und – ganz wörtlich zu nehmen – fruchtbarsten Schöpfungen aus dem Geist des Sur-réalisme, dessen Begriff Apollinaire 1917 in die Welt setzte. Die britisch-französische Produktion, die mit dem frisch aufbereiteten Stück seit eineinhalb Jahren tingelt, sollte dringend auch die Bundesrepublik Deutschland heimsuchen, in der die Durchführung bewaffneter imperialistischer „Auslandseinsätze“ von so gut wie der ganzen öffentlichen Meinung als neuer Normalzustand hingenommen wird und im Vorgriff auf künftige Heldentaten ausgerechnet eine erfolgreiche Familienpolitikerin zur Kriegsministerin gemacht wurde. Wenn Apollinaire das erlebt hätte – welch eine Fortsetzungsgeschichte hätte er seiner Thérèse andichten können!