„Der erste Mord“ – ein guter Krimititel und sicher auch gut für eine Oper, das dachte sich wohl die Intendanz der Staatsoper Unter den Linden, die durch die theatrale Aufbereitung eines Oratoriums von Alessandro Scarlatti eine weitere szenische Uraufführung bei den Barocktagen für sich verbuchen kann. Doch „Il Primo Omicidio ovvero Caino“, wie die 1707 entstandene und erst 1964 wiederentdeckte Partitur auf ein Libretto von Pietro Ottoboni im vollen Titel heißt, geriet zwiespältig, meint unser Kritiker Peter P. Pachl.
Während im Brandenburger Theater, mit Dirigent Max Renne und Solist*innen, in denen der Opernbesucher die Protagonist*innen der letzten zehn Jahre von Jürgen Flimms Werkstatt im Schillertheater wiederbegegnet, David Robert Colemans neue Oper „Ahead of Struwwelpeter“, auf ein Libretto von Irene Dische, frech-fröhliche Uraufführungs-Serie feiert, frönt die Staatsoper Unter den Linden im Rahmen ihrer alljährlichen Barocktage heuer Alessandro Scarlatti. Von dem gibt es bekanntlich genügend Opern, die der Wiederaufführung in einem solchen Rahmen wert wären (genannt seien nur die köstliche Commedia „Il Trionfo dell’onore“, die Tragödie „Il Mitridate Eupatore“ oder das dramma per musica „Griselda“), aber es sollte wohl eine Uraufführung sein – und so folgte der Straßenkantate „Love, you son of a bitch“ im alten Orchesterprobensaal (nmz online berichtete) auf der großen Bühne eine geistliche Kantate, sprich Oratorium.
Obgleich das Thema Adam und Eva und die Folgen bei Rudi Stephan („Die ersten Menschen“) und bei Krzysztof Penderecki („Paradise Lost“) psychologisch sehr viel spannender behandelt wird, nun also Alessandro Scarlattis „Il Primo Omicidio“ als „neue“ Barockoper.
Der italienische Regisseur Romeo Castellucci hatte vor sieben Jahren im Berliner Hebbel-Theater mit „Sul concetto di volto nel figlio di Duo (Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn)“ für einen Theaterskandal gesorgt und dabei die Fragestellung der Revolte gegen die Religion ins Bild gerückt. Vermutlich hatte er daraufhin den Auftrag zu dieser Regie an der Staatsoper Unter den Linden erhalten. Wie im Hebbel am Ufer, so arbeitet Castellucci nun auch wieder mit Kindern, gibt sich jedoch ungleich zahmer. Im zweiten Teil, während die Solist*innen in den Orchestergraben verbannt sind, agieren sechs Kinder in identischem Outfit und Maske anstelle der Soli auf der Szene – obendrein perfekt lippensynchron. Außer den sechs Solisten treten 22 weitere Kinder auf, welche Puppen mit Königskronen – als den zum König gekrönten Kain – umherwerfen und den von Kain vergrabenen Abel (selbstredend auch ein Double) exhumieren, waschen und als Prozession abtragen. Schließlich überdecken sieben Kinder die gesamte Bühnenfläche mit einer weißen Folie.
Der erste Teil des zweieinhalbstündigen Abends spielt hingegen nur im Vorderbühnenbereich. Der für seine Ausstattung selbst verantwortliche Regisseur hält ihn sehr viel spartanischer, mit einer aus der Ikonographie der Barockzeit abgeleiteten Gestik zu einem sich kopfüber herabsenkenden Altarbild nach einem Gemälde von Simone Martini, welches die satanische Verkündigung Evas visualisiert.
Hinter einer Fettfolie werden diverse Strukturen und Lichteffekte sichtbar. Eine weiß leuchtende bewegliche Überfigur gemahnt an Eduard Stuckens Erfolgsroman „Die weißen Götter“ – imposanter als andere, fragwürdige Schattenrisse, wie etwa eine in den Ackerfurchen pflügende Gestalt als ein Double von Abel.
Als ein Unsympath mit Schlapphut und mit leerer Plastiktüte ist Gottvater gezeichnet. Im selbstherrlichen Akt bei einem ohnehin unfairen Wettbewerb breitet er sein Jackett über die Dampfmaschine auf Kains Altarblock und verhindert so deren aufsteigenden Rauch. Das kindliche Double Gottvaters wird später dem kindlichen Kain die (selbstredend ebenfalls gedoubelte) Plastiktüte über den Kopf ziehen.
Plastikbeutel
Überhaupt haben es die Plastikbeutel dem Ausstatter-Regisseur angetan: Statt eines Lammes führt Abel einen schalartigen Blutsack in Klarsichtfolie mit sich, den er dann aufschlitzt, um den Bühnenboden, sein Kostüm und durch Umarmung auch das seines Bruders, mit diesem Blut zu beflecken.
Ungleich faszinierender als Gottvater ist die Gestalt von Luzifer (Arttu Kataja) – mit einem roten Strumpf. Kains Körperhaltungen zeichnet er in dessen Rücken vor.
Die Ebene ästhetischer Spielerei wird im zweiten Teil noch einmal aufgegriffen, indem sich vor einem Sternenhimmel aus Lämpchen eine blaue und dann auch noch eine grüne Prospektwand herabsenken – für Farbenblinde mit „Blue“ und „Verde“ beschriftet. Ansonsten bedeckt die Fläche des Bühnenbodens im zweiten Teil in ziemlicher Dunkelheit eine Landschaft aus Sträuchern und leichten (Styropor-)Steinen.
Möglicherweise nicht als Zitat gemeint, doch als ungute Parallele sich aufdrängend, erfolgt ein überaus penetrantes Detail aus Tankred Dorsts unsäglicher Bayreuther „Walküre“-Inszenierung: wiederholt wird von der Kinderschar ein Fahrrad durch die Landschaft geschoben.
Am Ende der Handlung darf das zuvor in den Graben verbannte Sängerpaar von Adamo (Thomas Walker) und Eva (Brigitte Christensen) wieder auf die Bühne; dort vereint mit seinen zwei – erneut lippensynchron stumm mitsingenden – Doubles. Aber es bleibt beim Duett, auch wenn der Junge und das Mädchen inkonsequent nun als der seitens des ersten Menschenpaares von Gottvater erbetene weitere Kindersegen agieren.
Ähnliches wäre in dem von Rudi Stephan vertonten Mysterium von Otto Borngräber nicht möglich – denn dort wird Eva von beiden Söhnen als Sexualpartnerin begehrt, was den tödlich endenden Konflikt der Brüder psychologisch auslöst. (Denn die Mutter von Kains Kindern kann zwangsläufig nur Eva sein.)
Da die Darsteller*innen in Castelluccis Inszenierung Trenchcoat und Anzüge tragen, also den Bezug zur Gegenwart betonen, hätte die aktuell viel diskutierte Fragestellung der Entscheidung zwischen Fleischverzehr und Veganertum nahe gelegen und dabei – angesichts des hier ohnehin negativ gezeichneten, den Geruch von gebratenem Fleisch dem von Gemüse vorziehenden Gottvaters – jenen Widerspruch virulent gemacht, auf den bereits Richard Wagner als Gegner der Vivisektion hingewiesen hatte.
Gesungen wird gut
Gesungen wird gut, insbesondere von Kristina Hammarström und Olivia Vermeulen als Caino und Abele, welche besonders im Duett glücklich harmonieren; beide agieren als die einander mehr liebenden als sich feindlich gesinnten Söhne von Adams zweiter Frau Eva. (Denn Adams erste Frau Lilith wird in der christkatholischen Kantate Scarlattis verschwiegen, wohingegen Carl Goldmark in seiner „Königin von Saba“ diese als Dämonin alludiert.) Allerdings hätte man sich in einer barocken Opernaufführung die Interpretation von Caino und Abele durch Counter gewünscht. Diese Stimmfarbe bleibt aufgespart für Gottvater, der nicht nur als Voce di Dio sondern hier leibhaftig dargeboten wird, von Benno Schachtner stimmlich einwandfrei, wenn auch etwas zu gleichförmig gesungen.
„Leider wird das Bächlein nicht so klar intoniert wie es besungen wird“
Atmosphärisch dicht und kongruent zur Bühne, sowie zu der – einmal auch für einen Bläser und dann für die lange Dacapo-Arie Gottvaters eingesetzten – linken Rang-Proszeniumsloge, leitet René Jacobs das 36-köpfige B’Rock Orchestra im weitgehend herabgefahrenen Orchestergraben. Leider wird das Bächlein nicht so klar intoniert wie es besungen wird. Nachhaltig eindrucksvoll hingegen der Einsatz der Donnermaschine und das dominante Spiel der Bläser, wenn Lucifero den Caino ermutigt, zum Rebell gegen den Himmel zu werden.
Ist der Besuch der neuen Barockoper zu empfehlen? Ein Opernabend, der so viele Assoziationen zu anderen Werken der Kunstgeschichte im Allgemeinen und des Musiktheaters im Besonderen auslöst, kann wohl nicht als misslungen gewertet werden.
Zu Recht ernteten Dirigent und Klangkörper, die Solist*innen und besonders die Kinder, viel Jubel. Nur gegen den Regisseur schallten auch Buhrufe durch das bei der Premiere nicht ausverkaufte Auditorium.
- Weitere Aufführungen: 7., 9., 15. und 17. November 2019.