Auf den ersten Blick passt Paul Abrahams 1934 in Wien uraufgeführte Operette „Märchen im Grandhotel“ ins Schema der Gattung: Eine exilierte Kronprinzessin mit adligem Gefolge im mondänen französischen Cannes, dazu ein Hotelketten-Eigner, der seinem studierten Sohn ein halbjähriges Berufspraktikum als Kellner verordnet. Der verliebt sich unsterblich in die Prinzessin. Modern im Libretto von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda allerdings ist die zweite Komponente:
Eine Filmkompanie in Hollywood ist auf der Suche nach einer sensationellen Idee. Diese ist bald gefunden: Die gekrönten Häupter im Exil spielen sich selbst – und dies 70 Jahre vor Etablierung der Doku-Soap als Fernsehformat! Dem Regieteam der deutschen Erstaufführung am Staatstheater Mainz ist diese Pointe wenig Aufmerksamkeit wert. Irgendwie scheint hier zu gelten: Mainz bleibt Mainz.
„Mainz bleibt Mainz“, die berühmte „Fernsehfastnacht“ unterscheidet wie der gesamte Sitzungskarneval ziemlich penibel zwei Sparten: Die politisch-satirischen Vorträge einerseits und den „Kokolores“ (gekonnten Unfug oder Klamauk) andererseits. Beides zusammen geht nicht. In der Operette ginge es schon, aber Peter Jordan und Leonhard Koppelmann entscheiden sich ziemlich eindeutig für den niederen Blödsinn in hoher Dosierung. Beispiele: Das Herzklopfen von Darstellern und die eine oder andere Handgreiflichkeit werden im Orchestergraben instrumental verdoppelt. Wenn Kapellmeister Samuel Hogarth am Klavier auf der Bühne sitzt, fällt regelmäßig der berühmte Satz „Mach‘s noch einmal Sam“ oder eine Anspielung darauf. Henner Momann als Höfling Don Lossas reißt eine Zote nach der anderen, tollpatschiger als Michael Dahmens Kellner Alfred kann man sich gar nicht anstellen, und Murat Yeginer liegt als Filmchef Macintosh wie ein zappelnder Maikäfer auf dem Rücken. Usw. Es fehlte nur noch, dass Zuschauerlachen vom Band eingeblendet wird.
Kaum etwas bleibt da vom lebendigen Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, Traum und Satire, Kitsch und Komik, das jede Operette immer wieder aufs Neue auslotet. Dabei verrät doch auch „Märchen im Grandhotel“, ein Jahr nach der Vertreibung der Autoren aus Berlin entstanden, eine Menge über seine Entstehungszeit. Da sagt die exilierte Infantin Isabella (Jennifer Panara): „Das Exil dauert doch länger als erwartet.“ Die Falschmeldung, die Monarchie werde wieder eingeführt und die Rückkehr sei möglich, lockt sie und ihre Entourage vor den Rundfunkempfänger. Danach ist die Enttäuschung groß. Groß ist aber auch der Dünkel der Entthronten, die lange überlegt, „ob sie den bürgerlichen Schichten etwas näher treten“ sollte, aber dann doch den Heiratsantrag ablehnt, den ihr der einstige Kellner und Zimmerbursche Alfred nach Preisgabe seines Inkognito macht. Alfred und sein Vater, der Hotelketten-Inhaber Chamoix (ebenfalls Murat Yerginer, aber viel ernsthafter), demonstrieren wiederum republikanischen Stolz.
In Hollywood wiederum geht es in erster Linie ganz nüchtern um Profit – aber auch um eine emanzipierte junge Frau der Zwischenkriegszeit: Marylou Macintosh (Nini Stadlmann) luchst ihrem skeptischen Vater im 1. Akt die Erlaubnis ab, diese seltsame Dokumentation in Cannes zu drehen. Im 4. Akt kehrt sie erfolgreich zurück – mit dem abgehalfterten Charmeur Prinz Andreas Stephan von Habsburg-Lothringen (Johannes Mayer) als Liebhaber im Schlepptau. Die beiden Hauptfiguren indessen sind ihren Prinzipien untreu geworden. Die unnahbare und zeremoniellfixierte Isabella hat Gefallen gefunden an ihrer neuen Rolle als Filmdiva, und Vater und Sohn Chamoix haben ihr Hotelimperium versilbert, um sich von einem verarmten serbischen Herzog adoptieren zu lassen. Dem gewünschten „Happy End“ steht nun nichts mehr im Wege. Über den Sinn der zahlreichen Videoeinspielungen während der Aufführung kann man geteilter Meinung sein: Sofern sie den erst zu drehenden Film zeigen, nehmen sie Spannung weg; manchmal bilden sie aber auch einen witzigen Kommentar. Bühnenbildner Johannes Mayer findet fürs Grandhotel eine attraktive Lösung; das Hollywood-Studio behandelt er mit weniger Sorgfalt.
Den beiden Schauplätzen gemäß changiert Abrahams Musik, grob umrissen, zwischen Walzer und Jazz. Samuel Hogarth und das Philharmonische Staatsorchester nehmen sich der Partitur mit hörbarem Vergnügen und beachtlichem Stilgefühl an. In der Premiere zumindest wurden aber in der Eingangsszene sogar die per Mikrofon verstärkten Sänger noch deutlich übertönt; erst danach pendelte sich eine akzeptable Klangbalance ein. Interessanterweise verlangt Abraham für die Klarinetten die Verstärkung durch kegelförmige akustische Megaphone; die Musiker des Staatsorchesters haben diese Vorrichtungen nachgebaut; je eine Abbildung von Original und Nachbau findet sich im Programmheft. Mit einem Jazztrio überbrückt Hogarth zusätzlich Pausen zwischen musikalischen Nummern; mitunter untermalt er auch Dialoge. (Er möchte damit an den exilierten Komponisten erinnern, der sich Anfang 1939 im Pariser Splendid Hotel als Jazzpianist sein Zimmer erspielen musste.) Das in der Partitur für den Orchestergraben vorgesehene Männergesangsquartett hat man auf die Bühne geholt und weitere Passagen für diese Besetzung arrangiert. So werden nun die vier Vokalisen singenden Sänger immer wieder auf einer fahrbaren Showtreppe für einen kurzen Moment auf die Bühne geschoben und wieder zurück. Szenisch hat das keine wirkliche Funktion, erweckt aber den Eindruck einer repräsentativen Schauoperette, während das Stück in Wirklichkeit eher Kammerspiel-Charakter hat.
Großer Respekt gebührt dem schauspielernden, singenden und tanzenden Ensemble, das sich mit hohem Engagement in seine Rollen wirft und auch die peinlichen Momente des Abends durch seine hohe Präsenz überbrücken hilft. Schade ist, dass die singende, steppende und tanzende Nini Stadlmann gleich in ihrer ersten Szene als Vamp fast alle Register ihres Könnens ziehen muss. Gegen dieses Feuerwerk an Bewegung kann der Rest des Abends nur abfallen. Einen tragfähigen Spannungsbogen über mehr als drei Stunden anzulegen, ist Jordans und Koppelmanns Sache offensichtlich nicht. Und so hört man nach der über mehr als dreistündigen Aufführung Zuschauer sagen, der zweite Teile habe sich „etwas arg gezogen“. Aber eigentlich ist es eher umgekehrt: Die Hektik hat sich gelegt, und es gibt plötzlich Raum für authentische und falsche Gefühle. Die Wien-Nostalgie von Prinz Andreas Stephan, ob echt oder Pose, darf ausschwingen, und zwischen Michael Dahmen als Albert und Jennifer Panara als Isabella scheint es allmählich wirklich zu funken – was im Zusammenspiel mit der als Zofe verkleideten Marylou zu einer wirklich witzigen Badezimmer-Szene führt. Anika Baumann, die die leicht hysterische Hofdame Gräfin Ramirez spielt, hat sich auf der Hauptprobe eine Beinverletzung zugezogen, integriert aber ihr Handicap überzeugend in ihre Rolle. Und überhaupt gehen die Darsteller sehr souverän damit um, dass keine vollständige Generalprobe stattfinden konnte. Nach der eher lärmenden als ironischen Schlussszene steht fest: Hier wäre Besseres drin gewesen.