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Szene aus der Uraufführung von Leopold Hurts „Medea“ mit dem Ensemble Intégrales im Forum der Musikhochschule – mit Arielle Hirshfeld in der Titelrolle. Foto: Christian Enger
Szene aus der Uraufführung von Leopold Hurts „Medea“ mit dem Ensemble Intégrales im Forum der Musikhochschule – mit Arielle Hirshfeld in der Titelrolle. Foto: Christian Enger
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KLANG! – Leopold Hurts „Medea“ und andere Hamburger Netzwerkaktivitäten

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Hamburg bietet mit der Reihe NDR das neue werk, der Musikhochschulinitiative des STUDIO 21, dem Ensemble Resonanz oder dem Ensemble Intégrales schon jetzt objektiv mehr Engagement in Sachen Neuer Musik als dem konservativen Ruf und Musikgeschmack der Kaufmannsstadt zu entsprechen scheint.

Die Hansestadt hat bislang indes ein eklatantes Defizit in der Vermittlung zeitgenössischer Musik, selbst Konzerte der eingespiel-ten NDR-Reihe mit modernen Klassikern wie Ligeti, Stockhausen oder Henze finden üblicherweise im Kreise von wenigen Eingeweihten stand. Ein Defizit, das nun mit Hilfe des Netzwerks Neue Musik angegangen werden soll. Mit dem vierjährigen Förderprojekt will die Kulturstiftung des Bundes vermitteln, vernetzen und finanzielle Mitverantwortung tragen. Die Hamburger Spielart des Netzwerks firmiert unter dem Namen KLANG! Nach einem Eröffnungsfestival Ende September auf Kampnagel und im Rolf-Liebermann-Studio sind nun auch mittelfristige Aktivitäten gestartet. Und die Wissenschaft, Kunstpraxis und Sparten verbindende Uraufführung „Medea“ des jungen Komponisten Leopold Hurt markierte Mitte Oktober einen musikalisch-szenischen Höhepunkt.

Tamara van Buiren, die als Projektleiterin die KLANG!-Aktivitäten managt, resümiert den ersten Festivaldurchgang als beglückende Erfahrung: „Es herrschte Neugierde, Heiterkeit und Entkrampfung.“ Begriffe, die im sich ausdifferenzierenden Elfenbeinturm der Avantgarde sonst eher Fremdworte sind. Nicht nur habe jedes Konzert sein Publikum gefunden, es habe zudem eine gut durchmischte Zuhörerschaft gegeben. Ein Kritikerwort von der „Spielwiese zum Erleben Neuer Musik“ habe den Erfolg exakt eingefangen.

Der übergreifende Ansatz des zehnstündigen sonntäglichen Programms des Auftaktfestivals mit Architektur, Ausstellung, Installationen, Kinderprogramm, Filmen, Tanz und anderen inszenierten Formaten ist zudem voll aufgegangen. Das Publikum kommentierte, nun gebe es endlich „einen Wegweiser durch den Dschungel der Neuen Musik“. Die Menschen waren dankbar für einen krachenden, vielseitigen, zeitlich fokussierenden und weit wahrnehmbaren Beginn. Merkmal und weiteres Ziel des Hamburger Netzwerks ist es, Dachmarke von Veranstaltungen der Neuen Musik zu sein, dabei aber bewusst nicht selbst als Veranstalter aufzutreten. Die Labels der einzelnen Veranstalter bleiben erhalten. KLANG! verlegt sich also auf eine vernetzende Vermittlungsarbeit von Inhalten, auf die Gewinnung von Publikum, auf eine starke und übergreifende PR. Dazu gilt es nun, Berührungsängste seitens des Publikums, Konkurrenzdenken und Kirchturmegoismen seitens der Akteure abzubauen.

Ein gemeinsamer Verteiler der an Neuer Musik interessierten Ohrenmenschen, von dem letztlich alle Partner profitieren werden, für den aber auch alle Teilnehmer ihre Dateien einbringen müssten, ist zwar noch Zukunftsmusik, Tamara van Buiren ist jedoch mehr als zweckoptimistisch, dass die positiven Schwingungen von KLANG! in den nächsten Jahren die Kleinstaaterei innerhalb der Szene der Neuen Musik überwinden und solche Grenzüberschreitungen möglich machen wird.

Das ansehnliche und anregende erste KLANG!-Magazin gehört zu den medialen Wegen dorthin. Kaija Saariaho ist Composer in residence der KLANG!-Saison 2008/09, die finnische Neutönerin, die in ihrer Musik zu Farbkraft, Emotionalität und Schönheit zurückfindet, bekennt im Titelportrait: „Ich möchte nicht elitär sein.“ Am 4. und 5. Juli 2009 kommt Saariaho nach Hamburg und wird im Rahmen des Festivals Passagen in Konzerten und Meisterkursen portraitiert. Weitere in Hamburg schon eingespielte, aber längst nicht allen Neue-Musik-Freunden bekannte Formate stellt das Magazin vor: Vom 1. bis 16. Mai wird das Festival blurred edges bereits zum vierten Mal stattfinden und nicht zuletzt die Randzonen experimenteller Musikformen erkunden. klub katarakt will vom 14. bis 17. Januar 2009 „Die Pforten der Wahrnehmung“ öffnen, um sich in seinen Programmen dem Irrationalen und Unkontrollierten zu widmen. Gastkomponist wird der Amerikaner Alvin Lucier sein, der als Poet der elektronischen Musik gilt.

Bereits vom 24. bis 30. November wollen die Hamburger Klangwerktage, die unter dem Titel contemtronics auf Kampnagel stattfinden, in Konzerten, Vorträgen und Workshops auf neue Perspektiven der elektronischen Musik aufmerksam machen.

Die selbst für Interessierte ausgeprägte Unübersichtlichkeit der Neuen-Musik-Szene mit ihren sehr unterschiedlichen Akteuren weicht mit dem gemeinsamen Ankündigungsorgan keineswegs einer Einheitskultur, es baut jedoch Brücken zwischen freier Szene und Institutionen, zwischen Schulen, Universitäten, Unternehmen und Kulturträgern. KLANG! will im besten Sinne „publikumsbildend“ wirken: Mit der KLANG!-Card zum Preis von 25 Euro erhalten Besucher aller Festivalpartner für die Dauer einer Saison einen Preisnachlass von 25%. Die ersten Erfolge geben den netzwerkenden KLANG!-Machern Recht.

Als eines von vielen Ereignissen, die unter dem KLANG!-Mantel Exzellenz und Experimentierfreude hervorscheinen ließen, war die „Medea“-Uraufführung des jungen Komponisten Leopold Hurt. Im Forum der Musikhochschule gelangte seine auf dem Roman „Medea Stimmen“ von Christa Wolf basierende Version des Mythos zur Uraufführung.

Angekündigt als „Musiktheater für eine Sängerin, Schauspielerinnen und Schauspieler, Instrumentalensemble und Elektronik“ gelang dem 1979 in Regensburg geborenen Komponisten, der zunächst Zither, Viola da Gamba und Historische Aufführungspraxis in München studierte und derzeit sein Diplom bei Manfred Stahnke an der Hamburger Musikhochschule ablegt, eine virtuose Mischung aus Archaik und Avantgarde. Das um Akkordeon, Altzither und Kontrabasshackbrett erweiterte Ensemble Intégrales verdoppelte den lakonisch starken Text von Christa Wolf nicht, sondern vertiefte ihn und lud ihn mit gleichsam subkutaner Energie auf.

Die auf beiden Seiten der Bühne als Teil eines durch Gazewände durchlässig strukturierten musikalisch-szenischen Ereignisraums postierten Musiker wurden zu Dialog-Partnern der Darsteller (Ariella Hirshfeld als grandios konzentrierte Heilerin und Wissende Medea, Wiebke Wackermann als epileptische Kreon-Tochter Glauke). Ein reduziertes sowie Hören und Sehen intensivierendes Gesamtkunstwerk (Raumkonzept und Regie: Dominik Neuner) verband Musiker, Darsteller und Publikum in wechselseitiger (An-)Teilnahme und geschickter Verunsicherung des klassischen Rezeptionsverhaltens. Im Geschwirr von naturreinen Mikrotönen, imaginativer Percussion und überaus aparten Mischungen von Zither und Klavier, klassischen und „seltsamen“ Instrumenten gewann Leopold Hurts Musiksprache mitunter nicht weniger als die irisierende Kraft eines Helmut Lachenmann.

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