So lange dauerte das Rheingau-Musik-Festival noch nie. Über elf Wochen von Ende Juni bis Mitte September verteilten sich 159 Veranstaltungen auf 45 Spielstätten, und außer den traditionell spielfreien Montagen fanden sich im Kalender nur sechs Termine, an denen nicht ein oder mehrere Konzerte stattfanden. Vieles im Programm zielte aufs Populäre und Breitenwirksame. Im Klassik-Bereich waren es große Namen und beliebte Werke, dazu kamen eine ganze Menge Jazz, Chanson, Folklore – und natürlich „Fahrende Musiker in Weingütern“. Aber auch das Unbekannte oder Unbequeme hatte noch seinen Platz: Artist–in-Residence war der renommierte deutsche Geiger Frank Peter Zimmermann.
Mit dem eher öffentlichkeitscheuen Künstler, der bewusst auf eine Homepage verzichtet und trotz seiner geigerischen Fähigkeiten nicht „Virtuose“, sondern schlicht „Musiker“ genannt sein möchte, führte die Musik-Journalistin Katharina Eickhoff in der alten Kelterhalle in Oestrich-Winkel ein ebenso lebendiges wie aufschlussreiches Gespräch. „Ich habe nie ein Dior-Kleid auf der Bühne getragen,“ grenzte sich Zimmermann leicht süffisant ab vom Modewettlauf vieler seiner Kolleginnen. Überhaupt sei klassische Musik traditionell eher für einen kleinen Kreis entstanden, und man müsse sie gar nicht „breittreten für den allgemeinen Geschmack.“ Er verstehe es als seine Aufgabe, „die Musik zum Sprechen zu bringen“.
„… die Musik zum Sprechen zu bringen“
Eben dies gelang ihm, dem Bratschisten Antoine Tamestit und dem Cellisten Christian Poltéra beim Kammermusikabend auf Schloss Johannisberg mit Beethovens Streichtrio Nr. 1 Es-Dur op. 3 in nahezu unnachahmlicher Intensität. Über den Zwischenapplaus nach dem ersten Satz, den er leicht unwirsch quittierte, hätte Zimmermann sich eigentlich freuen können. Denn entweder hatten erfahrene Konzertbesucher ob der Intensität des Zusammenspiels das rituelle Schweigen vergessen, oder er hatte gerade unerfahrene Hörer für Beethoven begeistert. Willig folgte das Publikum dem Trio Zimmermann auch in den verdichteten Ausdruck von Anton Weberns nachgelassenem „Satz für Streichtrio“. Zimmermann ließ das kurze Stück zum besseren Verständnis gleich wiederholen. Dass man seine Ansage hinten im Saal nicht verstand, sorgte dabei für Irritation, die sich als leichte atmosphärische Trübung auch noch eine Weile über Mozarts Divertimento Es-Dur KV 563 zu legen schien. Spätestens mit der deutlichen Ansage des Menuetts aus Beethovens Serenade D-Dur op. 8 als Zugabe war dann auch die Kommunikation mit dem Publikum wieder vollends im Lot.
Eher enttäuschendes Eröffnungskonzert
Eher enttäuschend verlief das Eröffnungskonzert mit dem hr-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi in Kloster Eberbach. Hier stand im Rahmen des Schwerpunktes „Shakespeare:450. Geburtstag“. Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Programm – neben Auszügen aus der „Sommernachtstraum“-Musik die Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ und die Sinfonie Nr.1 c-moll. Der langjährige Chef- und jetzige Ehrendirigent, der das Orchester vor allem durch sein Klanggespür weitergebracht hat, fand zu Mendelssohns Klangsprache weder dramaturgisch noch atmosphärisch einen ansprechenden Zugang und kompensierte dies durch hohe Tempi, die für Poesie keinen Raum ließen und auch der Akustik der Basilika nicht angemessen waren.
Eine überraschend glückliche Wechselwirkung von Musik und Raum entstand hingegen im Wiesbadener Kurhaus beim Programm „With Shakespeare in Love“ mit der Lautten Compagney Berlin unter Wolfgang Katschner, dem Countertenor Terry Wey und Senta Berger. In engagierter, gefühl- und humorvoller Weise trug die Schauspielerin Shakespeare-Sonette vor und moderierte zugleich den Abend. Die Musiker auf der sehr geschickt dezent ausgeleuchteten Bühne antworteten mit englischer Vokal- und Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts. Über eindreiviertel Stunden (ohne Pause) erlebte man im Friedrich-von-Thiersch-Saal ein Programm von bemerkenswerter Intimität und Intensität.
„Duell der Diven“
Zum „Duell der Diven“ traten die Sopranistin Simone Kermes und die Mezzosopranistin Vivica Genaux an. Titel und Idee des Abends erinnerten an die legendäre Prügelszene der beiden Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni bei einer Aufführung von Giovanni Bononcinis „Astianatte“ 1727 in London. Auf dem Programm standen in der Eberbacher Basilika virtuose Soloarien und Duette von Bononcini, Händel, Hasse, Porpora und den weniger bekannten Komponisten Attilio Ariosti, Giuseppe Arena, Leonardo Vinci und Pietro Torri. Die gesungenen Texte waren im italienischen Original und deutscher Übersetzung sorgfältig dokumentiert, und man durfte die ehrenwerte Absicht vermuten, auch ein opernmusikalisches Panorama der Zeit zu präsentieren. Virtuos ließen die beiden Sängerinnen Läufe und Koloraturen perlen und spielten dabei vergnügt einen „Zickenkrieg“. Doch zusammen mit Andrés Gabetta am Pult der begleitenden Capella Gabetta nivellierten sie den barocken Affektenreichtum auf die Standardsituationen „rasant und wütend“ (häufig) und „langsam und friedlich“(selten). Musikalische Feinheiten, Textnuancen oder dramaturgische Konstellationen der Duette spielten nicht wirklich eine Rolle, so dass der Abend eher als sportliches denn als musikalisches Ereignis gelten muss. Ein Großteil des Publikums war begeistert, erst recht nach der Zugabe, einem „Abba-Medley“, bei dem die Zuschauer frenetisch mitklatschten.
Jenseits oberflächlicher Vermarktungsstrategien
Von einer ganz anderen Seite, jenseits oberflächlicher Vermarktungsstrategien, zeigte sich Simone Kermes in einem Kammermusikabend mit dem Fauré-Quartett auf Schloss Johannisberg zu Richard Strauss’ 150. Geburtstag. Auch wenn die Sopranistin ihr vibrierendes Temperament manchmal zügeln musste, waren ihre Interpretationen von ausgewählten Strauss- und Mahler-Liedern getragen von Klangsinn, wachem Textgespür und einer interpretatorischen Neugier, die den Strauss-Liedern jeden Anflug von bajuwarischer Behäbigkeit nahm. Aufhorchen ließen die von dem Dresdener Komponisten Dietrich Zöllner gefertigten Arrangements der Begleitung für Klavierquartett. Man wunderte sich geradezu, dass diese mittlere Besetzung zwischen sinfonischer Breite und intimem Klavierklang nicht schon längst ihre Freunde gefunden hat. Mit pointierten Interpretationen von Strauss‘ Klavierquartett c-moll op. 13 und Mahlers Klavierquartettsatz a-moll schufen Erika Geldsetzer (Violine), Sascha Frömbling (Viola), Konstantin Heidrich (Violoncello) und Dirk Mommertz (Klavier) ein eindrucksvolles instrumentales Gegenwicht zum eher theatralen Gestus der Strauss-Lieder.
Carl Philipp Emanuel Bach
Mit Carl Philipp Emanuel Bach, dessen Geburtstag sich zum 300. Mal jährt, widmete sich das Festival einem eher unterbelichteten Jubilar. Trotz der zahlreichen im Rhein-Main-Gebiet aktiven Oratorienchöre hielt sich das Publikumsinteresse an seinem Oratorium „Auferstehung und Himmelfahrt“ in Grenzen, obwohl mit Hermann Max, der Rheinischen Kantorei und dem Kleinen Konzert aus Dormagen ausgewiesene Alte-Musik-Experten nach Eberbach kamen. Dabei war es ausgesprochen spannend zu erleben, wie der zweitälteste Bach-Sohn in seinem Oratorium über den Stil seines Vaters hinausging in Richtung Empfindsamkeit einerseits, Aufklärung andererseits. Gemäß den seinerzeit aktuellen Forderungen des Philosophen und Ästhetikers Johann Georg Sulzer schrieb Bach ein „lyrisches Drama“, das auf rezitativische Erzählung der dem Hörer ja schon bekannten Handlung und auf reflektierende Choräle verzichtet. Doch trotz der „lyrischen“ Grundhaltung kann von Ereignislosigkeit keine Rede sein. Die in der Oster- und Auferstehungsgeschichte liegende Dramatik verlagert sich vielmehr in das Innere des singenden Betrachters und ruft den Hörer zum Mitvollzug auf. Max legte die Aufführung sehr lebendig an, beachtete aber die Akustik der Basilika zu wenig, so dass insbesondere vor der Pause interpretatorische Details in einem teigigen Klangbild verschwammen. Am Ende gelang es ihm dann doch eindrucksvoll, die große Steigerungsanlage des bewegten Schlusschors „Alles was Odem hat“ in einen transparenten Spannungsbogen zu formen.
Ebenfalls auf die Spuren Carl Philipp Emanuel Bachs begab sich das Ensemble „La Divina Armonia“ in der Geisenheimer Pfarrkirche Heilig Kreuz („Rheingauer Dom“). Jan De Winne (Traversflöte), Stefano Barneschi (Violine) und Lorenzo Ghielmi (Klavier) spielten sechs Sonaten in verschiedener Besetzung, darunter die unter dem Namen Johann Sebastian überlieferte Triosonate G-Dur BWV 1038, die möglicherweise ein Gemeinschaftswerk von Vater und Sohn ist. Die Übergänge zwischen beider Stil sind ohenhin fließend, wie das restliche Program mit den Sonaten Wq 72, Wq 124, Wq 143 undWq 144 zeigte. Insbesondere in den Triosonaten mit Traverso war der „Berliner Bach“ offensichtlich bestrebt, seinen königlichen Brotherren als Flötenvirtuosen ins rechte Licht zu setzen, ohne ihn ästhetisch zu irritieren.
Ganz anders gab er sich in der Sonate G-Dur Wq 62 Nr. 19 für Klavier solo: Als Ausdruckmusiker par excellence, der aus dem Wechselspiel von Fingern und Gefühlen seinen kompositorischen Faden spinnt. Gerade hier faszinierte der Klang des (nach einem Nürnberger Original nachgebauten) Silbermann-Pianos. Bei der Dreierbesetzung geriet die Violine zuweilen akustisch zu stark in die Vorhand und man vermisste die Verstärkung der Basslinie durch ein zusätzliches Continuo-Instrument. Doch das fiel nicht ins Gewicht gegenüber der völlig unprätentiösen Intensität, mit der sich die drei Musiker dem Spiel der Affekte und Linien hingaben – drei ältere Herren, die niemandem mehr etwas zu beweisen brauchen und gerade deswegen ideale Interpreten sind. Zweimal 35 Minuten Spielzeit, dazu eine Zugabe – mehr brauchte es nicht für ein völlig erfülltes (und damit auch vollständiges) Programm.
Musik des 19. Jahrhunderts ist natürlich extrovertierter: Die kompositorischen Möglichkeiten werden breiter, das Ich des Komponisten und des Interpreten kommen stärker ins Spiel, und selbst die Instrumentalmusik wird in bislang ungeahntem Maße ideen- und welthaltig. Dennoch ist die Besetzung, die Brahms für sein Trio Es-Dur op. 40 wählte, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: Dem eingespielten und vielseitigen Duo von Violine und Klavier ist hier ein Horn beigesellt, das ganz spezifische Assoziationen weckt. Man denkt an Jagd, an Natur, ans Posthorn, an romantische Sehnsucht überhaupt. In hochsensibler Weise zeichneten Marie-Lusie Neunecker (Horn), Antje Weithaas (Violine) und Silke Avenhaus (Klavier) bei ihrem Konzert auf Schloss Johannisberg Brahmsens kompositorischen Balance-Akt nach, bei dem er mal das Horn mit seinen Partnern kammermusikalisch verschmilzt und es dann wieder als das „ganz Andere“ heraushebt. Die (sprechend und wach interpretierten) Violinsonaten in F-Dur von Beethoven (die „Frühlingssonate“) und Mendelssohn repräsentierten in diesem Programm gewissermaßen die kompositorische Normalität. György Ligetis Trio für Violine, Horn und Klavier erklang vor der Pause. Eine Platzierung am Ende hätte das Verständnis erleichtert, denn das Stück ist zugleich Hommage und Antwort an Brahms. Doch wahrscheinlich traute man sich nicht, das Publikum mit Neuer Musik unter den Rheingauer Nachthimmel zu entlassen.
Balanceakt
Auch Robert Schumanns Konzert für Violoncello und Orchester ist ein Balanceakt, diesmal zwischen introvertiertem Fantasieren und virtuosem Konzertieren einerseits, zwischen kammermusikalischer Intimität und sinfonischer Breitenwirkung andererseits. Im Wiesbadener Kurhaus hielten der Solist Gautier Capuçon und das London Symphony Orchestra unter Leitung von John Eliot Gardiner nicht nur eindrucksvoll das Gleichgewicht. Ihre Interpretation erschien geradezu als Musterbeispiel für die Verbindung von struktureller Transparenz mit beseeltem Musizieren. Eingerahmt war das Konzert von zwei Mendelssohn-Werken, bei denen Gardiner Violinen und Bratschen gemäß der ursprünglich vom Komponisten geforderten Praxis im Stehen spielen ließ. Dies führe, so hat er bei Gelegenheit erklärt, zu einem freieren, stärker solistisch empfundenen Spiel. Das Rezept schien anzuschlagen: Sowohl die Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ als auch die Reformationssinfonie waren selbst in den ruhigen Phasen getragen von einer in exakter Detailarbeit entwickelten inneren Dramatik, bei der stets deutlich war, dass in dieser Musik wirklich etwas auf dem Spiel steht.
Klassische Musik geht alle an
Was in der Ouvertüre auf dem Spiel steht, darüber geben die zugrundegelegten Goethe-Gedichte Auskunft. Bei der Reformationssinfonie liegt der Fall schwieriger. Es mag sein, dass Mendelssohn Martin Luthers Ringen um einen gnädigen Gott und die daraus folgenden Entwicklungen im Sinn hatte, vielleicht aber auch – über alle Konfessionsgrenzen hinweg – eine allgemein gültige Erzählung von ernsthafter Gewissenserforschung, von Anfeindung und Auseinandersetzung, von Lebensfreude und neugewonnener Sicherheit. (Immerhin erlebt Luthers Psalm-Vertonung „Ein feste Burg“ als Zitat keine Überhöhung zur protestantischen Kampfhymne.) Spontanbeifall nach dem ersten Satz war erstes Resultat einer packenden Aufführung, die unüberhörbar den Anspruch der Gattung Sinfonie verkündete: Klassische Musik geht alle an.