Zum hundertsten Geburtstag wurde György Ligeti vielerorts mit Aufführungen gefeiert. Meist ohne Beziehungen zu Bartók, Zeitgenossen, Nancarrow, afrikanischer Rhythmik, Schülerschaft und jüngeren Positionen wurde der Komponist dabei als „Klassiker“ musealisiert.
Klassiker in ungewohnter Umgebung
Nicht so beim Moers-Festival. Das „Jazzfestival für Musik/Synapsenbildung/Politik/Medienkunst und Zusammensein!“ bietet seit 1972 Grenzüberschreitungen zu Folk, Rock, Punk, Industrial, Pop, Rap, HipHop, Techno, Elektronik, Avantgarde. Seit 2017 verankert der hier aufgewachsene Jazzbassist Tim Isfort die Veranstaltung in der niederrheinischen Stadt und Gesellschaft. Zahllose Bands spielen auf Schulhöfen, Plätzen, Straßen sowie Park- und Festivalgelände. Dazu gibt es Klamottenläden, Kinderprogramme, Ess- und Trinkbuden sowie das Freibad als Zeltplatz.
Selbst für Moers ungewöhnlich war diesmal viel arbeitsteilig komponierte, notierte und dann interpretierte Musik, und zwar von György Ligeti und dessen Sohn Lukas. Letzterer plauderte über den berühmten Vater, dieser sei ein genau notierender Perfektionist und großer Jazz-Fan gewesen und habe ihm früh afrikanische Musik vorgespielt. Die Simultanaufführung von Lukas Ligetis „En même temps“ mit je einem Quartett in der Enni-Eventhalle und im „AmViehtheater am Rodelberg“ war eine unsinnige Spätfolge des Distanz-Musizierens während Corona. Während beide Formationen über Kopfhörer aufeinander reagierten, merkte das Publikum davon nur, dass sich die Musiker stellenweise zurücknahmen, um den anderen den Vortritt zu lassen. Vor Ort hörte man dann nur Begleit- statt Hauptpartien.
Mehr Pausenfüller als inspirierte Abwechslung waren auch die kurzen Improvisationen, die Geiger, Trompeter und Lukas Ligeti am Drumset ins Konzert des SWR Vokalensembles einstreuten. Unter Leitung von Yuval Weinberg sang die Stuttgarter Spitzenformation frühe A-cappella-Werke, die Ligeti um 1950 in der Bartók-Nachfolge auf Basis ungarischer Folklore komponierte. Mitreißend vorgetragen gingen die tänzerisch-schwungvollen Stücke in Moers glatt als Hungarian Folk durch. Wohlwollenden Applaus ernteten auch die pathetischen „Drei Fantasien nach Friedrich Hölderlin“ und das neue Chorwerk „Chorrajzok“ von Marton Illès, bestehend aus schwarmartig flatternden Massenstrukturen, tickenden Konsonantenfolgen und schlingernden Glissandolinien. Beim „Poème symphonique“ für hundert Metronome klatschten schließlich manche im Publikum mit dem am Ende übrig gebliebenen Taktell mit.
Die südafrikanische Afropop-Band Burkina Electric um Lukas Ligeti an Elektronik und Drumset tat sich mit dem Quartett BRuCH aus Essen/Köln zusammen. Der gemeinsame Auftritt bewegte sich zwischen chilligem Ethnokitsch im typischen 12/8-Takt, beiläufigem Nebeneinander und respektvoller Begegnung. Die Ensembles traten abwechselnd in Vorder- und Hintergrund, so dass ihre spezifischen Musizier- und Vokalpraktiken erkennbar wurden. Die Sängerinnen Maï Lingani und Marie Heeschen imitierten einander Töne und Figuren, um die Unterschiede ihrer Timbres und Intonationsweisen umso stärker hervortreten zu lassen.
Das Programm „Music from Kylwiria“ verdankte seinen Namen dem Fantasieland, das sich Ligeti als Kind ausdachte. Das Ensemble ColLAB Cologne unter Leitung von Susanne Blumental präsentierte Auftragswerke von sechs Komponierenden aus Jazz und neuer Musik. Nate Wooley, Lucia Kilger, Vassos Nicolaou, Theresia Philipp, André O. Möller und Carolin Pook beteiligten sich auch aktiv mit Instrumenten und Elektronik. Ihre Beiträge verschmolzen sie zu einem nahtlosen Gesamtverlauf, der zwischen Techniken, Stilen, Komposition und Improvisation mäandrierte und in charakteristischen Abschnitten zentrale Aspekte von Ligetis Musikschaffen beleuchtete. Das waren keine musealen Retrospektiven, sondern kreative Fortschreibungen dessen, was einst den Jubilar beschäftigte und heutige Musikschaffende nicht minder fasziniert: rhythmische Texturen, mechanische Motorik, rasende Virtuosität, einfache Melodik, irisierende Klangflächen, komplexe Polyphonie, traditionelle Satztechniken, alternative Stimmungssysteme, neue Tonalitäten … Das hält Klassiker am Leben.
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