Es gibt eine Reihe von Opern, die kaum szenisch, aber gerne konzertant aufgeführt werden. Die entsprechende Schublade bei Regisseuren, Dramaturgen, Kritikern heißt „Unrettbare Handlung mit sensationeller Musik“ oder dergleichen. In dieser Schublade steckt auch George Bizets Oper „Die Perlenfischer“ ziemlich fest. Nun hat sich das Pfalztheater Kaiserslautern an eine Inszenierung gewagt.
Auch hier äußert Musiktheater-Dramaturg Elias Glatzle schon im Einführungsvortrag seine Skepsis gegenüber dem Szenario von Michael Carré und Eugène Cormon. Doch immerhin gesteht er dem Werk ein interessantes Spannungsfeld zwischen den drei Hauptfiguren zu und arbeitet heraus, wie stark die Handlung von Schwüren geprägt ist. Da haben sich einst die beiden Freunde Zurga und Nadir geschworen, ihre Freundschaft nicht durch das beiderseitige Verliebtsein in dieselbe Frau aufs Spiel zu setzen und auf diese Liebe zu verzichten. Beim Wiedersehen erneuern sie diesen Schwur. Doch Nadir bricht ihn, nachdem er in der verschleierten Priesterin, die die ceylonesischen Perlenfischer die Fangsaison über begleitet, seine alte Liebe Leila erkannt hat. Leila ihrerseits schwört, die von ihr verlangte eremitisch-zölibatäre Lebensweise einzuhalten, obwohl sie Nadir bereits erkannt hat. Auch sie bricht ihren Schwur.
Zurga bringen die beiden damit in schwere seelische Nöte; ihn haben die Perlenfischer zu Beginn der Saison zum Anführer gewählt und ihm unbedingten Gehorsam geschworen. Und den halten sie, obwohl er sich höchst widersprüchlich verhält. Erst will er die beiden ertappten Deliquenten vor dem Scheiterhaufen bewahren; nachdem er Leila erkannt hat, nimmt er die Begnadigung zurück. Zwar bereut er danach diese Entscheidung, doch Leilas persönliche Gnadenbitte für Nadir lässt seine Eifersucht wieder aufflammen. Erst nach der Bestätigung des Todesurteils erfährt Zurga, dass Leila jenes Kind war, das ihn einst vor Verfolgern versteckt hat; er erkennt die Kette wieder, die er dem kleinen Mädchen damals als Andenken geschenkt hat. Zu einer erneuten öffentlichen Kehrtwende sieht er sich offensichtlich nicht mehr in der Lage. Stattdessen legt er im Dorf Feuer und alarmiert die am Opferplatz versammelten Dorfbewohner. Die lassen den Scheiterhaufen stehen, und er befreit Nadir und Leila. Seine letzten Sätze lauten: „Brahmas weiser Rat bestraft meine Tat mit Tod und Verderben.“ Das ist ein offenes, aber pessimistisches Ende, das von späteren Bearbeitern als unbefriedigend empfunden wurde, und so entstanden andere Schluss-Varianten, die zumeist mit Zurgas Tod endeten.
Dass Zurga das selbstgelegte Feuer vor den Perlenfischern als „gottgesandt“ bezeichnet, müsste aufhorchen lassen, denn dieser Begriff führt in eine tiefer liegende Schicht der Oper, die eben nicht „Leila“ oder „Zurga“ heißt, sondern „Die Perlenfischer“, und die nicht nur mit intimen kammermusikalischen Momenten überrascht, sondern auch mit gewaltigen Chören und instrumentalen Naturbildern vom Strand, die eine breite Palette zwischen Idylle und Bedrohung entfalten. Unter dem Gastdirigenten Samuel Hogarth bringen Orchester, Chor und Extrachor des Pfalztheaters die Vielgestaltigkeit, Farbigkeit und Aussagekraft von Bizets Partitur so eindrucksvoll und überzeugend zur Geltung, dass sich allein dafür schon der Vorstellungsbesuch lohnt.
Darüber hinaus spürt man aber auch, wie Bizet zwei Milieus kontrastiert: Da sind Nadir, Zurga und Leila, die zumindest eine Zeit lang in der Stadt gelebt haben, sich Gefühle und Leidenschaften zugestehen und mit Schwüren und göttlichen Geboten eher locker umgehen. Und da sind die Perlenfischer, die bei ihrer hochriskanten, lebensgefährlichen Tauchertätigkeit nicht nur eine hohe Disziplin benötigen, sondern auch einen zuverlässigen göttlichen Beistand. Magische und mythische Praktiken stehen für das, was heute Arbeitsschutzmaßnahmen und Lebensversicherungen sind. Und die Härte der Vorschriften, die die Taucher ihrer Priesterin auferlegen, korrespondiert mit der Härte ihrer eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Versagt die Priesterin, hat das Dorf versagt und müssen die Götter entschädigt werden. Gegen diese Rigorosität mythischen, unaufgeklärten Denkens, vertreten durch den resoluten Gemeindeältesten Nourabad, haben Zurga, Nadir und Leila nicht wirklich eine Chance. Bizets musikalischer und dramaturgischer Realismus, im Jahr 1863 durchaus modern, macht deutlich: Die Zeit der Naturromantik ist vorbei, und ob die Liebesromantik eine Chance hat, steht in den Sternen.
Wenn Regisseur Urs Häberli, Bühnenbildner Thomas Dörfler und Kostümbildner Michael D. Zimmermann die Handlung in eine ceylonesische Textilfabrik verlegen, verweisen sie zwar auf vergleichbar harte Arbeitsbedingungen, ignorieren aber die entscheidende Bedeutung der (bedrohlichen) Natur in Libretto und Musik und die daraus erwachsende Kraft des magisch-mythischen Denkens. Und so wirken denn auch die religiösen Beschwörungsszenen entsprechend aufgesetzt, nur noch veraltet und nicht mehr wirkmächtig. Doch dass zwischen dem öffentlichen und privaten Agieren der drei Hauptfiguren eine entscheidende Kluft besteht, wird durchaus deutlich. Die Ebene des Kammerspiels innerhalb des großen Szenarios ist überhaupt intensiv durchgearbeitet, und Bernd Valentin gestaltet die Rolle des verzweifelten Anführers darstellerisch und sängerisch so eindringlich, dass man die Oper schon fast wieder „Zurga“ nennen möchte. Eric Laporte steht ihm als Nadir kaum nach, nur ist dieser leidenschaftlich Liebende die weniger interessante Figur. Die Erkrankung beider Leila-Darstellerinnen brachte die besuchte zweite Vorstellung an den Rand einer Absage: Glücklicherweise konnte Leah Gordon (Staatstheater Nürnberg) einspringen und von der Seite singen, während Regieassistentin Miriam Locher den ausgedehnten szenischen Part übernahm. Beide wuchsen im Lauf des Abends zu einem überzeugenden Team zusammen, so dass die Doppelung gar nicht mehr auffiel.
Wie aber endet diese Oper in Kaiserslautern? Nourabad, der von Alexis Wagner souverän verkörperte Dorfälteste, bleibt nach Zurgas Alarmruf am Platz und beobachtet weiter das Geschehen. Zurga kann zwar Nadir befreien, aber nicht mehr Leila, die von Nourabad resolut festgehalten wird. Nadir kehrt zurück zu Leila, um mit ihr auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Inzwischen hat Nourabad auch Zurga fest im Griff, während sich Flammen im Hintergrund ausbreiten. Man assoziiert den gemeinsamen Tod der beiden Liebenden in Verdis „Aida“, aber auch den Weltuntergang von Wagners „Götterdämmerung“. Bizets Musik legitimiert eigentlich beide Anknüpfungen. Wahrscheinlich ist aber für eine Bühnen-Zukunft der „Perlenfischer“ gar nicht so wichtig, in welcher Richtung und Intensität das tragische Ende ausfällt. Entscheidend dürfte sein, das Stück nicht vom Libretto her zu lesen, sondern es von Bizets dramaturgischem Gesamt-Gespür her zu entfalten.