Alfred Brendel im Alter? Ein erweiterter Alfred Brendel. Waren viele enttäuscht als er vor zwei Jahren seine pianistische Karriere beendet hatte – so hat er seitdem eine Seite an sich konsequent nach außen gekehrt, die vom konzertierenden Künstler nur überdeckt, aber immer da war: das Schreiben und das Lesen über Musik. Stets ist es sein Fall gewesen.
Mülheim an der Ruhr, im Juni. – In der von treuen Fans gut besetzten, reichlich blumendekorierten Stadthalle schreitet Alfred Brendel, etwas gebeugt zwar, aber nach wie vor zielstrebig zum Klavier, setzt sich und stellt diese Frage, die bei ihm schon guter Brauch ist: „Können Sie mich gut hören?“ Es ist ihm wichtig. Was nützt schon die schönste, klügste Lesung, wenn ich nicht verstanden werde? Und darauf kommt es ihm nun ebenso an wie auf den guten Ton, den er mit seinen Händen erzeugt hat. Und natülich sind auch jetzt wieder Noten aufgelegt. Im weiteren Verlauf wird Brendel auch daraus spielen und spielend demonstrieren – etwa die Themen der Liszt’schen h-moll Sonate, um sie nach Charakter, Herkunft und Bedeutung mit treffenden Worten zu beschreiben.
Doch der Klaviatur gilt nicht mehr sein ganzes Augenmerk. Hinzugekommen ist ein Notenpult gleich daneben, auf dem Brendel sein Skript deponiert hat. Es dient ihm als Lesestütze, ohne dass seine „Lesung mit Musikbeispielen vom Band und am Klavier“ abgelesen klänge. Im Gegenteil. Alles hört sich an wie grade hingeschrieben, freilich so, als ob der Autor immer erst zu sich selbst spricht, um damit – es ist schon das ganze Geheimnis – auch zu uns. Es ist nichts künstliches an dem, was Brendel sagt und daran wie er es sagt. Er denkt nur laut. Früher, zu Zeiten als Bildung und Bildungserlebnis noch nicht von unseren neunmalklugen Strategen der Musikvermittlung gebrandmarkt und aus dem Verkehr gezogen worden sind, hätte man gewusst, woher das kommt und was es damit auf sich hat, wenn etwas geschliffen und kenntnisreich und kritisch und witzig vorgetragen wird. Heute müssen wir es wieder lernen. Nur gut, dass die Intendanz des Klavier-Festival Ruhr nicht nachlässt in ihrem Bemühen, auch den lesenden Alfred Brendel regelmäßig bei diesem bedeutenden Stelldicheinlein rund um die Welt der schwarzen und weißen Tasten dabei zu haben. Und, wer einmal eine dieser inspirierten Veranstaltungen besucht hat, bemerkt unschwer das Bedürfnis des Publikums, sich auf hohem Niveau über Musik und Musiker wie Franz Liszt bilden, bewegen, erfreuen zu lassen. Es sind, wenngleich völlig unspektakulär, Sternstunden. Auch die in Mülheim an der Ruhr.
Ein Blick auf die Homepage des Künstlers zeigt im Übrigen, dass Lecture und Masterclasses und Poetry Readings (ja, es gibt auch den Dichter Alfred Brendel) nun an die Stelle der Brendel-Recitals getreten sind. Zwischen Mai und Juli werden es rund drei dutzend Termine sein, an denen der Wahl-Londoner mit seinen Themen zwischen Cologne und Chipping Camden, Wimbledon und Attergau unterwegs ist.
Gegen die Mode
Darunter natürlich mit Liszt, war der klavierspielende Brendel doch einer der ersten, die sich für den lange Verschrieenen eingesetzt hat – gegen herrschende Meinung und Mode, die Liszt als schwülstigen Tastenlöwen abgetan haben. Dass er seine „Schwächen“ hat, weiß Brendel am allermeisten. Er scheut sich auch nicht sie, zu nennen: die Schwäche mancher Themenbildungen, den Hang, das Gleiche immer wieder und zu oft zu sagen, die Unlust des Komponisten, Hingeworfenes zu korrigieren, die inflationäre Verwendung des Septimakkordes. Doch die Stärken, darüber lässt Brendel keine Zweifel aufkommen, überwiegen. Ausführlich spricht er über die drei Bücher der Années de pèlerinage, über die h-moll-Sonate, die zusammen mit der Faust-Symphonie besprochen wird und in der Brendel den Kern des klavieristischen „Hauptwerks“ sieht. Dann ist die Zeit um. Beifall. Verbeugung. Verabschiedung.
Nächstes Jahr kommen wir wieder. Auch wenn der Lecture-haltende Brendel mal wieder streng sein wird, wenn er seinen Vortrag unterbrechen muss, um nervigen Entspannungshustern hochaufgerichtet, mahnend aus buschigen Brauen sekundenlang sein eisiges Schweigen entgegenzuhalten. Mehr Disziplin – auch im Alter! will er sagen. Recht hat er.