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„Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“. Foto: Smailovic
Antonia Ahyoung Kim in „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“. Foto: Smailovic
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Konfrontieren statt reflektieren: Eindrücke vom Eröffnungswochenende der Münchner Biennale

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Mit zwei auf sehr unterschiedliche Weise schmerzhaft aktuellen Produktionen zu Krieg und Vertreibung einerseits und Alltagsrassismus andererseits ist die Münchner Biennale für neues Musiktheater eröffnet worden. Juan Martin Koch hat Bernhard Ganders „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ gesehen und das VR-Dokutheaterprojekt „Davor“ erlebt.

„Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen. / Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verständigen, / die unter dir ein Feuer entfachen. / Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger Erfahrung / und unguter Vorahnung zu balancieren.“

Es sind Passagen wie diese, die zeigen, dass Serhij Zhadans Libretto zu Bernhard Ganders Biennale-Eröffnungsstück „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ mehr ist als ein Textvehikel für selbstbezogenes Musiktheater. Der Autor, von den Biennale-Machern zu einem Zeitpunkt beauftragt, als in dessen ukrainischer Heimat bereits ein Krieg herrschte, der im Westen aber niemanden so recht interessierte, greift bei dieser Arbeit nicht so sehr auf seine Erfahrung als Romancier, sondern vielmehr auf seine Begabung als Lyriker und Songtexter zurück. Wie sein Libretto wohl mit dem heutigen Wissen, vor dem Hintergrund der brutalen Eskalation aussehen würde?

Das Szenario – das Niemandsland an der Grenze eines osteuropäischen Staates zum Westen – entfaltet Zhadan jedenfalls nicht, um eine spezifische Geschichte zu erzählen. Es dient ihm als Erfahrungsraum, um über Vertreibung, Flucht, Zurückweisung und die Unmöglichkeit zu reflektieren, an einem Ort anzukommen, an dem man unerwünscht ist.

So etwas wie Handlung ist nur in den Dialogen zweier Männer angedeutet, die aus unterschiedlichen Gründen in Abschiebehaft sitzen: der eine als Soldat und angeblicher Kriegsverbrecher, der andere als Wirtschaftskrimineller (neben Andrew Robert Munn entwickelt vor allem Carl Rumstadt eindringliche Prägnanz). Ansonsten ist ein kleiner Chor der Hauptakteur. Mal kommentiert er von oben, also aus dem Westen herab, das Geschehen – Regisseurin Alize Zandwijk macht ihn hier allzu naheliegend zum Prosecco schlürfenden Premierenpublikum –, zumeist verkörpert er aber eine Gruppe Geflüchteter, aus denen eine Frauenstimme – leider von einer Schauspielerin gedoppelt – hervortritt.

Turbachöre auf Speedmetal

Bernhard Gander ist in den Anfangssequenzen aber zunächst einmal darum bemüht, dem Text jede Opernhaftigkeit zu nehmen. Anstelle der „Lieder“ aus dem Werktitel hören wir in maschinengewehrhafter Rhythmik herausgeschleuderte Textsalven. Den Beat zu diesen synkopierten Aufschreien liefert das Ensemble Modern in kleiner Besetzung, Dirigentin Elda Laro sortiert die ungerade durchlaufenden Achtelexzesse bewundernswert. Durch Verstärkung und Verzerrung ergibt dieser aus Violine, Bassklarinette, Kontrabass, Klavier und Schlagwerk bestehende Bandsound in Verbindung mit dem Ensemblegesang so etwas wie Turbachöre auf Speedmetal.

Dieser Effekt nutzt sich allerdings bald ab, vor allem wird dieses Skandieren den Zwischentönen von Zhadans klugem Text nicht gerecht, den man gar nicht so schnell mitlesen kann, wie er herausgeschleudert wird. Geschweige denn mitdenken. Klar ist: Gander will bei diesem Thema nicht reflektieren, sondern konfrontieren. Er will mit den Mitteln des Musiktheaters jene schmerzhafte Unmittelbarkeit erzeugen, die wir medial Dauerbeschallten gar nicht mehr an uns heranlassen. Das allerdings gelingt ihm mit kompromissloser Unerbittlichkeit.

Nach einiger Zeit beruhigt Gander die Band aber auch einmal, die aus dem Chor heraustretende Sopranistin (hochexpressiv: Antonia Ahyoung Kim) wird als Mensch, als Mutter greifbar, der Text direkt wahrnehmbar. Doch Gander traut dem Ganzen nicht; zu der Passage, in der ein geöffnetes Tor Hoffnung verheißt, stimmt das Klavier eher nudelnd denn expressiv den ersten Satz der Mondscheinsonate an. Beethovens Freiheitsutopie zerbröselt, auch wenn sein Mond gegen Ende kurzzeitig aufgeht: Mit Wunderkerzen und einem bunt funkelnden Plastikbäumchen aus dem Abfallcontainer wird zu schrägen Harmonium-Sounds Weihnachten gefeiert. Später wird das Presto agitato des dritten Sonatensatzes die endgültige Abschiebung „untermalen“…

So zieht zum düsteren Finale einer der Geflüchteten sämtliche Reißverschluss-Plastiktaschen als schweres Bündel hinter sich her – ein Sisyphos des 21. Jahrhunderts. Regisseurin Alice Zandwijk bebildert den intensiven, 100-minütigen Musiktheaterabend in der Münchner Muffathalle mit schlichter Prägnanz. Vor einer langen Mauer hat Bühnenbildner Theun Mosk auf der einen Seite Rettungswesten aufgetürmt und rechts, wo auch die Musiker sitzen, ein Autowrack postiert. In der Mitte ist das Gefängnis angedeutet; eine Laterne, aus der es auch mal regnet, beleuchtet die trostlose Szenerie. Ganders rastloser Wortbehandlung setzt Zandwijk großflächige Projektionen entgegen, so dass einige von Zhadans Textbildern nachwirken können: „Die Welt wird geschlossen wie ein nächtlicher Bahnhof / Gute Fahrt all jenen, die es geschafft haben, von hier fort zu kommen.“

„Davor“ – Alltagsrassismus in der Selbsterfahrung

Die zweite Produktion des Biennale-Eröffnungswochenendes (die Uraufführung von Ann Cleares „The Litte Lives“ musste auf den 10. Mai verschoben werden) hat mit Musiktheater nur am Rande zu tun. In „Davor“ stellen Komponist Yoav Pasovsky, Regisseur Robert Lehniger, Bühnenbildnerin Irina Schicketanz und Sounddesigner Miguel Murrieta Vásquez Szenen von Alltagsrassismus nach, die sie Interviews mit Betroffenen entnommen haben.

In den ohnehin wenig anheimelnden Katakomben des Einstein Kulturzentrums wird der Zuschauer von ruppigen, anlasslos nach Ausweispapieren und der Herkunft fragenden Schauspielern in verschiedene Situationen versetzt, in die man dann mittels VR-Brillen auch sehr real eintauchen muss: ins Restaurant, wo auf einmal der reservierte Tisch nicht zur Verfügung steht; in die Schule, wo der Kopftuch tragenden Tochter vom Übertritt ans Gymnasium abgeraten wird; an die Tankstelle, wo sich eine Gruppe Rechter bedrohlich dem Auto nähert.

Technisch ist das beklemmend gut umgesetzt, für zwei Busszenen wird man gar auf fahrbaren Podesten herumgeschoben. Der Mehrwert einer solchen dokumentartheatralen Umsetzung, die musikalisch nur eine effizient beunruhigendes Hintergrundrauschen zu bieten hat, erweist sich im letzten Raum der Anordnung. Hier kann man im Video jenen Menschen zusehen und zuhören, die diese Episoden tatsächlich selbst erlebt haben. So ruhig und abgeklärt, wie die Betroffenen davon erzählen können, war man selbst, gefangen unter der VR-Brille, nicht…

Weitere Aufführungen der „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ bei der Münchner Biennale am 9. und 10. Mai, an der koproduzierenden Deutschen Oper Berlin am 21., 22. und 24. bis 26. Mai.
„Davor“ ist bei der Biennale noch am 10., 12. und 13. Mai zu sehen
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