Ob sich Regisseur Christian Tombeil von Georg Hensels Bemerkung anregen ließ, dass Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ von 1836, uraufgeführt erst 77 Jahre später in München, „wie aus Versehen ein Jahrhundert zu früh geboren“ ist. Ob er sich daher entschlossen hat für seine szenische Deutung der 1925 in Berlin uraufgeführten Oper „Wozzeck“ von Alban Berg nach Büchners Dramenfetzen, jetzt am Theater in Hof, die Geschichte vom Soldaten Wozzeck in die Gegenwart zu verlegen und in einer Art traumatischer Rückblenden die historisch zu begründenden Szenen hereinbrechen lässt?
Gabriele Wasmuth hat für dieses Konzept einen sterilen, weiß gefliesten Raum gebaut, das könnte ein Raum für medizinische Experimente am lebenden Menschen sein, der hier wie ein Stück Vieh gehalten wird und was sich so aus der Szene zwischen Wozzeck und dem Doktor herleitet.
Ganz klar wird das nicht, denn es gibt noch so etwas wie eine umlaufende Galerie, die erinnert eher an ein Schwimmbad. Manche der 15 knappen Szenen in den drei Akten der Oper spielen sich darauf ab, andere darunter. Dann kriechen die Menschen wie aus unterirdischen Höhlen ins leere Bassin. Kommen sie aus dem Abgrund, der ein Mensch ist und in den man nur schaudernd herabsieht, wie Büchner schrieb und Wozzeck singt? Das könnte erklären, warum der Hauptmann und Wozzecks Vertrauter Andres wie Zombies aussehen.
Andere Szenen und ihre handelnden Personen wiederum nähern sich der Realität stärker: Marie mit ihrem Kind etwa, Wozzecks gehetzte Begegnungen mit ihnen, oder wenn er die Experimente des Arztes erleidet, die von einer strammen Assistentin in festem Gesundheitsschuhwerk nach Aufseherinnenmanier unterstützt werden.
Aber warum ist die von Stefanie Rhaue dargestellte Person als Sinnbild der Unbarmherzigkeit zugleich die Großmutter, die Wozzecks Knaben noch bevor die Oper beginnt mit einer Fratzenmaske die Geschichte vom einsamen Kind erzählt, was so in der Oper nicht vorgesehen ist. Warum ist sie auch der Narr, der überall im klinisch weißen Raum Umengen von Blut sieht und dann auch noch die fesche Margret, die entdeckt, dass das Blut der ermordeten Marie an ihrem Mörder Wozzeck klebt.
Der Tambourmajor als Fiktion eines Toreros scheint auch eher der Fantasie von Marie zu entspringen und in dieser müsste er größer, vor allem stimmlich präsenter sein, als dies der Tenor Andre Nevans vermitteln kann. In Wozzecks Fantasie werden alle Männer gehörnt. Massig, am laufenden Band, bekommen die trunken trudelnden Dorfburschen in ihren Krachledernen mächtige Geweihe aufgesetzt.
Bei so viel Bebilderung verlieren die in Büchners Text beschworenen surrealen Bilder fast ihre Wirkung, der existenzielle Schrei der Musik von Alban Berg droht durch optischen Ballast erstickt zu werden. Dass dies doch nicht geschieht ist das große Verdienst der musikalischen Realisierung dieses Schlüsselwerkes des modernen Musiktheaters, mit dem das Theater in Hof programmatisch seine Opernsaison eröffnet.
Auch wenn es die räumlichen Umstände erfordern eine reduzierte Orchesterfassung zu spielen, die subtile Kraft der Partitur kommt zur Geltung. Die Hofer Symphoniker unter der Leitung von Arn Goerke geben in fordernden Dynamik dem Musikdrama angemessene Klänge, und dies im Wechsel von subtiler Kammermusik und dröhnendem Aufschrei. Insbesondere die Klangmagie der leisen Intensität macht diese Aufführung von der musikalischen Seite her so bewegend.
Zudem kann man in Hof ein insgesamt überzeugendes Solistenensemble erleben, einzelne Leistungen stechen heraus und manche sogar in außergewöhnlicher Weise. Da sind zunächst Carsten Jesgarz und Hyung Wook Lee als Hauptmann und Arzt zu nennen, oder Mathias Frey mit seinem hellen Tenor als Andres. Großen Anteil am musikalischen Erfolg dieser mutigen Produktion haben Yamina Maamar und Birger Radde als Marie und Wozzeck. Die Sopranistin mit ihrer dunklen Grundierung und ihren sicheren Höhen beherrscht sowohl die geforderten lyrischen Passagen als auch den Aufschrei wütender Verzweiflung. Zudem ist ihr Spiel frei von jeder Art opernhafter Übertreibung, die Authentizität der Hingabe berührt und überzeugt. Birger Radde als Wozzeck ist ein junger Mann, der von seinen Träumen und Erinnerungen verfolgt wird. Gesanglich überrascht seine mitunter verinnerlichte, an die Kunst des differenzierten Liedgesanges erinnernde Gestaltung.
Der Sänger hat diese berührenden Töne der Einsamkeit und scheint am Ende am stärksten erschrocken zu sein über seine blutige Tat. In solch individueller Interpretation erschließt sich optisch und musikalisch die ausweglose Tragik des Menschen, der tötet, was er liebt.
In der Hofer Inszenierung darf Wozzeck nicht sterben. Das Becken ist leer, selbst zu ertrinken wird ihm verweigert. Aber er trägt seinen Sohn auf den Schultern, dessen „Hop Hop“ klingt nicht so einsam wie man es sonst hört, ein Hoffnungsschimmer?