Das Salzburger Festspieljahr nähert sich der Vollendung: Kein Monat ohne festliche Ereignisse. Mozartwoche im Januar und Februar, Osterfestspiele im April, Pfingstfestspiele im Mai, ein Jazzfestival dazwischen, im Sommer sechs Wochen die Salzburger Festspiele, danach noch die umfangreichen Kulturtage und zur Adventszeit Festlich-Vorweihnachtliches, das unglaublich viele Besucher in die Mozartstadt lockt – da reizen die verbliebenen Zwischenräume die Phantasie der Kulturschaffenden, auch diese noch sinnvoll auszugestalten.
Der März war noch frei. Also, so dachte sich Hans Landesmann, Konzertchef in der Ära Mortier, danach in gleicher Position bei den Wiener Festwochen, der Mozartstadt würde ein Festival der Neuen Musik wohl anstehen. Das Ergebnis aller Überlegungen trat jetzt nach langer Vorbereitungszeit in die Realität ein: Die erste Salzburger Biennale präsentiert sich an vier langen März-Wochenenden als ein höchst eigenständig konzipiertes Unternehmen, um die Vielfalt gegenwärtigen Musikschaffens zu demonstrieren.
Vier renommierte Komponisten der Gegenwartsmusik wurden eingeladen, ihre Musik gleichsam auf deren Quellen zurückzuführen. Suggestive Titel sorgten für gespannte Erwartung: „Sonette der dunklen Liebe“ stand über Beat Furrers Beschäftigung mit dem spanischen Flamenco und dem Cante Jondo. „Der Zauber der Wiederholung“ spiegelte Steve Reichs Affinität zu Gamelan-Musik aus Bali. Für den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa heißt das Motto: „Der Ton kommt aus dem Schweigen“, und der schweizerische Komponist Klaus Huber wählte für seine Beschäftigung mit arabischer Musik einen seiner Werktitel: „Die Seele muss vom Reittier steigen“. Für diese Ausgabe der nmz standen für die kritische Beurteilung die ersten beiden Wochenenden bereit, der Furrer-Flamenco-Komplex und Steve Reichs balinesische Erfahrungen. Furrers Begegnung mit der Flamenco-Musik markiert gleichsam einen eher zufälligen Aspekt: Er begegnete dem Cante jondo, dem Flamenco-Gesang, vor einem Vierteljahrhundert in einem Club in Madrid. Furrer faszinierten nach eigenem Bekunden die „Körperlichkeit des Gesangs“ und die „Resonanzen im Körper des Sängers“. Da der Cante jondo sich auch aus arabisch-mauretanischen, aus Zigeuner-Musikkulturen und sogar christlichen Quellen speist, gibt es für einen nachschaffenden Komponisten ein reiches Inspirationsfeld für das eigene Komponieren. Furrer hat das unter anderem in seiner Ensemble-Komposition „Xenos“ eindringlich demonstriert, wobei man sich das nicht so vorstellen darf, dass nun nach einem schlichten Zitierprinzip Elemente der adaptierten Musikvorlage in der eigenen Komposition aufklingen. Furrer reflektiert den Geist der fremden Musikkultur und verschmilzt diesen mit der eigenen Imagination. Dabei entsteht etwas höchst Persönliches, Unverwechselbares, Eigenständiges. Der Titel der Biennale: „Wahlverwandschaften“, in Anlehnung an Goethes Roman, trifft speziell auf Furrers Adaptionstechniken zu: Analog zu Goethes „Chemie der Gefühle“ entwickelt Furrer eine „Chemie kultureller Ästhetiken“ und verschmilzt alles zu einem griffigen Personalstil. Das war in Salzburg an „Xenos“ und anderen Werken Furrers eindrucksvoll zu erfahren, nicht zuletzt durch hervorragende Interpretationen, wie bei „Xenos“ durch das Ensemble Contrechamps unter Furrers persönlicher Leitung.
Das Besondere an der ersten Biennale ist, dass die Beeinflussungen und Wechselwirkungen zwischen den Kulturen nicht nur Behauptung bleiben, sondern durch authentische Darstellungen der fremden Kultur sozusagen kontrapunktiert werden. Für den Flamenco-Cante-Jondo-Komplex war unter anderem der Flamenco-Sänger Arcángel eingeladen worden, der in mehreren Programmen durch seinen expressiven, gleichsam existentiellen Gesang faszinierte. Für Steve Reich hatte man aus Bali das Ensemble Taruna Mekar mit seinem Leiter Madé Arnawa verpflichtet. In zwei verschiedenen Vorstellungen war Gamelan-Musik sozusagen authentisch zu erfahren, auch wenn man als europäischer Außenstehender nur schwer diese Authentizität nachprüfen kann – man muss sich da wohl auf die Kenntnisse des Komponisten Steve Reich verlassen. Unschwer aber war zu erkennen, in wie starkem Maße Steve Reichs Komponieren von den minimalistischen Strukturen der Gamelan-Musik inspiriert worden ist. Seine „Drumming“-Komposition von 1971 erfuhr durch das Ictus Ensemble eine fabulöse Aufführung, seine „Clapping Music“ von 1972, vom Meister selbst mit gestaltet, besitzt unverändert ihren „inszenatorischen“ Witz. Den hohen ästhetischen Reiz hat sich auch Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie zu Steve Reichs „Fase – Four Movements to the Music of Steve Reich“ bewahrt. Die Aufführung war gleich zweimal in Salzburg zu besichtigen. Dass auch György Ligeti in den Zusammenhang mit der Minimalmusic eines Steve Reich gehört, war an einigen signifikanten Beispielen zu erfahren. Unter der Leitung von Johannes Kalitzke erwies sich das oenm, das österreichische ensemble für neue musik, bei Werken von Reich und Ligeti als hoch kompetente Formation.
Über die beiden anderen Biennale-Programme mit Toshio Hosokawa und Klaus Huber wird in der nächsten Ausgabe ein Bericht folgen. Dann kann auch ein Resümee über die erste Biennale Salzburg gezogen werden, auch welche künftigen Aspekte sich für die neue Veranstaltung ergeben könnten. Dass sich in Salzburg eine engagierte Neue-Musik-Szene herausgebildet hat, ist schon seit längerem kein Geheimnis mehr. Man braucht dazu nicht erst in eine informative Ausstellung in der Universität Mozarteum zu gehen, die in Texten und Bildern die Neue-Musik-Geschichte der Mozartstadt bis zum Jahr 1922 zurückverfolgt, als zwei Dutzend damals noch junge Komponisten, unter ihnen Paul Hindemith, die Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM ins Leben riefen. Spätestens seit der Ära Mortier ist die Musik der Gegenwart durch die Arbeit von Hans Landesmann und den „Zeitfluss“-Initiator Markus Hinterhäuser zu einem festen Bestandteil des allgemeinen Festspielprogramms geworden – dass davor etliche wichtige Opernuraufführungen in Salzburg stattfanden, soll dabei nicht unterschlagen werden. Landesmann und Hinterhäuser, dieser jetzt als Konzertchef der Festspiele, sind für Salzburgs Musik-und Festspielszene ein Glücksfall: Engagiert in der Sache, informiert über alles, was in der Neue-Musik-Welt geschieht, mit glänzenden persönlichen Verbindungen zu Komponisten und Interpreten, garantieren sie Salzburgs musikalischem Renommee die Zukunft.