„Weltstars im Wohnzimmer“, mit dieser griffigen Alliteration bewirbt die Villa Papendorf, gelegen im gleichnamigen 2500-Seelen-Dorf nahe Rostock an der Warnow, ihre musikalisch-literarischen Veranstaltungen. Beileibe kein vollmundiger Werbeslogan, sondern vorn und hinten zutreffend.
Hier haben in den letzten fünf Jahren, seitdem dieser Musentempel strahlt, Schauspieler wie Gudrun Landgrebe, Hannelore Elsner, Ulrich Noethen oder Martina Gedeck gelesen oder rezitiert, in der Konzertreihe „Klassik ganz privat“ etwa Musiker wie die Geiger Isabelle Faust oder Frank-Peter Zimmermann, wie die Pianisten Gerhard Oppitz oder Evgeni Koroliov und von Cellisten gar eine ganze Edelschar u. a. mit Wispelwey, Maisky, Queryas, Natalie Clein, Marie-Elisabeth Hecker, Finckel und Geringas gastiert – und zwar nicht nur als gelegentliche Glanzlichter, sondern in beständiger Reihenfolge.
Sie taten dies tatsächlich im „Wohnzimmer“, denn die imposante Jugendstil-Villa hat weder einen Saal noch ein geräumiges Vestibül. Drei mit weiten Durchbrüchen verbundene Räume, ehemalige Wohn-, Herren- und Lesezimmer, bieten nur 85 Zuhörern und den Künstlern Platz – ein höchst intimes Ambiente mit guten Sicht- und Hörverhältnissen.
Der Hamburger Emissionshändler Olav Killinger (47) hat die Fabrikantenvilla seines Urgroßvaters, die dieser vor genau 100 Jahren erbaut hatte, 2007 erworben, denkmalgerecht saniert und in dem einzig repräsentativen Gebäude des Dorfes eine Stätte der Hochkultur eingerichtet. Er probiert damit die kultursoziogisch interessante Variante eines Modells, das sich nach der Wende besonders in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt hat.
Hier, dem Land der ehemaligen Großagrarier, gibt es immer noch mehr als 2000 Guts- und Herrenhäuser, der dichteste Besatz in Europa. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie enteignet und öffentlicher Nutzung zugeführt. Als Alters- und Pflegeheime, als kommunale Verwaltungs- oder Einkaufseinrichtungen büßten sie ihren alten Glanz ein und verfielen zumeist. Nach der Wende wurden sie reprivatisiert, von kapitalkräftigen Investoren aus den westlichen Bundesländern aufgekauft (häufig Nachfahren der ehemaligen Besitzer) und saniert, was dem Land eine Fülle landschaftlicher Kleinode bescherte.
Kulturelle Sensationen in der Region
Ihre Verwertung erfolgte zumeist entweder als Hotels (darunter eine ganze Reihe von Nobelherbergen) oder als regionale Kulturstätten, besonders als regelmäßig genutzte Konzertorte für klassische Musik. Von diesen haben inzwischen eine ganze Reihe wieder aufgegeben, auch weil sie mit den qualitativ hochwertigen Angeboten der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, die diese als „Sleeping Beauties“ oder „Unerhörte Orte“ auch in solchen versteckten Kleinoden platzierte, nicht mithalten konnten; oder sie haben ihr kulturelles Angebot verbreitert und konsequent populären und lokalen Interessen angepasst.
Innerhalb dieses Modells geht Killinger einen eigenen, nicht ganz risikolosen Weg. „Ganz privat“ verzichtet er auf die finanzielle und personelle Rückendeckung eines stützenden lokalen Vereins. Er ist auch sein eigener Konzertagent: Er wählt die Künstler aus, engagiert sie, stimmt mit ihnen die Programme ab und erledigt auch noch das Marketing selbst – und dies alles, weil es ihm Freude und Befriedigung schafft. Und er setzt rückhaltlos auf exquisite künstlerische Spitzenqualität, eben auf „Weltstars“, mit denen er für den Raum Rostock geradezu kulturelle Sensationen schafft. Wie das, selbst bei deutlichen Eintrittspreisen, wirtschaftlich funktioniert, bleibt sein Geheimnis; jedenfalls sind die Konzerte immer gut besucht, nicht nur von Papendorfern oder Rostockern.
Elisabeth Leonskaja
Eine dieser „Sensationen“, als erste von weiteren 35 Veranstaltungen solcher Art in diesem Jahr, gab es ein Rezital der Pianistin Elisabeth Leonskaja (70), die, obwohl sie seit 1978 in Wien lebt, als die letzte Grande Dame der russischen Schule aus den Zeiten der Sowjetunion gilt, wie sie etwa vom legendären Swjatoslaw Richter, ihrem Lehrer, repräsentiert wird. Sie ist kein „Weltstar“ im landläufigen Sinn, aber eine der großen Musikerpersönlichkeiten unserer Epoche.
Sie bot ein Programm, das nicht bloß eine erfolgreiche Laufbahn bilanzierte, sondern noch einmal ins Neue vorstieß. Sie spielte ausschließlich Schubert, dessen drei letzte Sonaten (1828) sie vor acht Jahren in Heiligendamm im Rahmen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern gestaltet hatte. Diesmal zog sie gleichsam den Weg Schuberts zu diesen letzten Sonaten nach und bot dabei häufig Vernachlässigtes: mit der zweiten Sonate C-Dur D 279 (1815) des erst 18-jährigen Schubert, die eigentlich Fragment geblieben war, hier aber durch ein aufgefundenes Allegretto als Schlusssatz vervollständigt wurde, ein noch suchendes Experiment, dessen Aufführung nur in diesen Zusammenhängen als „Startposition“ jenes Weges Sinn macht; mit der Sonate A-Dur D 664 (1819), in der sich schon das Schubertsche Melos in seiner unvermittelten erschütternden Ambivalenz von Glück und Leid geltend macht, mit der Sonate a-Moll D 845 (1825), ein Meisterwerk, drei Jahre vor Schuberts frühem Tod geschaffen.
Die erregende doppelte Quintessenz dieses Konzertes: Einmal die stilistische Hellsichtigkeit der Leonskaja, mit der sie diesen Weg als die nicht schmerzfreie Herausbildung jenes „romantischen“ Weltempfindens Schuberts, in dem das Leben in seiner Erhabenheit und in seinem Elend aufgespürt wird, erlebbar werden ließ. Zum anderen eine selten gewordene Klavierkunst, die allen persönlichen, starverdächtigen Ehrgeiz im Hintergrund lässt, mit einer vielfarbigen Klangkultur und mit einer zwingenden Gestaltungskraft, die sich schon jenseits des bloß Technischen bewegt, die stets das künstlerisch Wahrhaftige mit dem menschlich Aufrichtigen verknüpft.