Das las sich damals spannend: dass der verbittert aus der „Adenauer-Republik“ nach Italien übersiedelte Hans Werner Henze 1976 mit dem „Cantiere“ im toscanischen Montepulciano ein Festival ins Leben gerufen hatte. Die Dorfbewohner und begeisterte Laien der Umgebung wirkten in künstlerisch erstaunlichem Maße mit. Das strahlte schließlich sogar in die 1988 gegründete Münchner Biennale aus – und führte oft zur Überforderung der Beteiligten an der jeweiligen „Münchner Produktion“ – doch diesmal wurde unser Kritiker Wolf-Dieter Peter mehr als überrascht.
Der Spielort Reithalle heißt inzwischen „Utopia“. Unverständlicherweise durften nur 40 Besucher auf den Drehstühlen im Zentrum des langen Hallen-Rechtecks Platz nehmen – wohl weil sie rundum – Abstand! - bespielt und beschallt wurden: Mit verunsicherndem Geröllknirschen vom steinigen Randweg; mit runden Klavierakkorden an einem und Dissonanzen von handgreiflich malträtierten Klaviersaiten am anderen Hallenende; von verständlichem Text (sehr prägnant Erzähler Simon Brusia und der beeindruckend skandierende Laien-Chor) und Gesang (mit leider unverständlicher Sopranwucht Jessica Aszodi) aus nahezu allen Raumrichtungen; von intim melancholischen Gitarrenklängen (Steffen Ahrens und Begleiter); heimeligen Akkordeon-Phrasen (Nikola Kerkez) und leisen Schlagzeug-Rhythmen (Mathias Lachenmayr). Sie alle lösten das Publikum binnen kurzem aus aller Realität.
Das war das Verdienst von Klang-Zauberer Christoph Bley. Ohne den technisch inkompetenten Aufwand der vorausgegangenen „M“-Produktion (vgl. nmz online vom 23.07.2020) beschwor er mit einem einzigen Mischpult auf über 50 Kanälen tatsächlich einen „U-topos“, einen Nicht-Ort voller fabulös schwebendem, oft nicht verortbarem Raum-Klang, der alle Surround-Sound-Orgien von Action-Filmen verblassen ließ. Das an den unfixierbaren Seufzer von Kleists Alkmene erinnernde „Ach!“ driftete durch die sanft wechselnden Lichtspiele (Jürgen Kolb) – und dann spielte einer an einem alten Röhren-Radio mit oszillierendem Grünauge, während die in den 1950er Jahren faszinierenden Stationen „Hilversum“ oder „Beograd“ undundund aus einer anderen Ecke aufgezählt wurden - wie „Zufallsbegegnungen“ ganz anderer Art als heutige „a-soziale“ Medienplattformen – „Ach! Fast eine Funkoper“ – ja, denn es wurde auch gesungen, Persisch, Bosnisch, Griechisch und Englisch. Eben europäisch postnational.
Kathrin Röggles Textvorlage ließ einige „Rückkehrer“ von Gestern ihre erste Wohnung erinnern: Was passiert, wenn Orte nur noch in unserer Vorstellung existieren, weil sie nie mehr so sein werden wie sie einst waren? Wie und wo kann man in der Zukunft (über)leben? Rührend hilflos wurden die Grundrisse einstigen „Zuhauses“ mit Kreide aufgezeichnet. Ist es möglich mittels Kunst utopische, imaginäre, mysteriöse Orte, Räume und Identitäten zu schaffen, die vielfältige Visionen und Perspektiven für die Zukunft bieten? Das wurde mit der harten Realität von Umbau, Abriss, besitzergreifenden Immobilienfirmen und „anderen Geistern“ kontrastiert.
In der Laut-Sprech-Ton-Wort-Klang-Collage zog der Chor auch einmal aus und kehrte mit fast kultischem Gesang und einem „Wir werden ankommen, den richtigen Weg finden, wissen, wo unser Ort ist“. Immer wieder begleitete eine klangschöne Solo-Oboe die gut einstudierten Abläufe. Seit November hatten Workshops der Münchner Volkshochschule mit den erst neugierigen und dann begeisterten Laien geprobt – und das größte Kompliment, das man dem für Komposition, Konzeption und künstlerische Gesamtleitung zuständigen Trio Cathy Milliken, Robyn Schulkowsky und vor allem Dietmar Wiesner machen kann, ist: Sie haben nicht sich selbst mit ihrer Kunst zu profilieren versucht, sondern die erstaunlichen Fähigkeiten ihrer Mitwirkenden entwickelt, gefördert und sie nie überfordert. Daraus erwuchs eine dichte, in Bann ziehende Stunde, die über alle beschworenen Krisen und Verunsicherungen hinaus einen zwar nicht handgreiflichen, aber Herz und Sinn bestärkenden Ort beschwor, wo Halt und Orientierung und Miteinander möglich sind: im Kunstwerk.