Bochum/Duisburg im September. Vor allem sie hat sich mittlerweile in unserem Ruhrtriennale-Unterbewusstsein festgesetzt – die Stimme aus dem Off vor Veranstaltungsbeginn: „Begrüßen Sie die Jury der Children’s Choice Awards!“ Auftakt zu einer Art Vorspiel auf dem Theater, einem Ritus mit subtilem Reflexions- oder auch Provokationspotential. Die Gefühlslage im Publikum: regelmäßig schwankend zwischen hochgezogenen Augenbrauen und dem Lächeln desjenigen, der glaubt, einen Witz verstanden zu haben. Ein Jokus, ein Regieeinfall? Und, haben wir das richtig mitgekriegt: Kinder als Juroren? Ja und nein. So heftig nämlich „No Education“, diese vielleicht verstörendste Goebbels-Erfindung, mit beiden Augen zu zwinkern versteht – es liegt darin ja auch ein Ernst, auch wenn derselbe im Anarchokostüm mit übergezogener Clownsnase daherzukommen pflegt. Nebenbei bemerkt ist letzteres ja fast eine conditio sine qua non geworden für denjenigen, der hierzulande heutzutage etwas von Wichtigkeit mitzuteilen begehrt, der in dieser oder jener Sache einen Ruck! herbeizurufen wünscht. Ohne ironische Brechung, ohne Umkehrung der Laufrichtung geht gar nichts.
So gesehen hat Goebbels zunächst einmal alles richtig gemacht, als er den inklusiven Ansatz der kanadischen Performancegruppe „Mammalian Diving Reflex“ und ihres künstlerischen Leiters Darren O’Don-nell auf Ruhrtriennale-Augenhöhe arrangiert und adaptiert hat: eine sonore Frauenstimme aus dem Off und eine superbe Versuchsanordnung im Schlepptau. Tatsächlich hat es ja etwas, die Teilnehmer der „Festivaljury“, gewöhnliche Schüler aus gewöhnlichen Mittelstufe-Klassen zwischen Rhein und Ruhr, in Limousinen vorzufahren, über rote Teppiche auf reservierte Plätze in der ersten Reihe zu schleusen und dafür Sonderapplaus einzufordern. Theater pur. Nur, dass man im nächsten Moment doch das Gefühl hat, hier ist jemand damit beschäftigt, den Teppich wegzuziehen, auf dem man als Erwachsener stehen gelernt hat.
Theater-Nachhilfe nein danke
Der Schluss liegt also nahe, dass hier eine Theaterregie aus fortgeschrittener Unlust, Kinder und Jugendliche in Kinder- und Jugendecken zu separieren, ein paar mutige Konsequenzen gezogen hat. Wer hat schon, fragt O’Donnel, gute Erinnerungen an die Schule? Und wer hat, ließe sich ergänzen, ein gutes Gefühl, wenn er durch eine Tür gehen soll, wo über dem Sturz „Vermittlung“ steht? Noch in der medialen Ruhrtriennale-Nachlese war es deshalb dieser verschmitzte Theater-Anarchismus, der der zuständigen Landesrundfunkanstalt eine ganze Sendestunde wert war: Was sollte uns das? fragte ein WDR3-Forum. Gibt es eine Message? Und wenn ja, bitte noch mal langsam zum Mitschreiben! – Am Ende stellte sich heraus: die Botschaft ist näher bei uns als vermutet. De te fabula narratur! Heißt: Das „no“ in „no education“ haben ihre Erfinder auf die kids und teens beschränkt. Die adults, unsereiner also, so die Mitteilung, braucht education sehr wohl.
Zugegeben, es mag andere Verfahren und Wege geben, um der Ästhetik der vierten Ruhrtriennale-Runde nach Gründungsintendant Gerard Mortier, nach Jürgen Flimm, nach Willy Decker auf die Schliche zu kommen. Für die jetzt einigermaßen scharf zu Tage tretende Programmatik unter der Intendanz von Heiner Goebbels, ist O’Donnel’s so bewundernswert schlüssig durchgezogene Anti-Vermittlung allerdings nicht der schlechteste Zugang. Andersherum: Definitiv gehört es für Goebbels zum Programm, ein Programm zu machen, das trotz denkbar weit ausformulierter Sparten, trotz denkbar offener Ausrichtung um die Institution der Kinder- und Jugendpädagogik und -vorstellung sowieso einen Bogen macht. Hier liegt sicher die größte Entfernung zur Welt des Stadttheaters. Das Misstrauen des Theatermenschen Heiner Goebbels dagegen scheint ebenso groß wie das gegen ein inzwischen institutionell gewordenes Vermittlungs-Theater, die vielleicht auffälligste Erweiterung heutiger Theaterrealität. Womit wir bei der unbedingt guten Nachricht angelangt wären: Wer sie immer schon nicht mochte, die verniedlichten Zauberflöten, die Kinder-im-Wald-Geschichten und wer ferner der Meinung ist, dass die gelungenste Vermittlung immer noch die gelungene Ausführung und gelingendes Theater der Leidenschaft ist, der hat in dieser Ruhrtriennale eine wahre Heimstatt. Nachhilfestunden im Theater fürs Theater? Bitte nicht.
Ton und Bild
Dem Veranstaltungsbesuch kam solche von Goebbels/O’Donnel in beschriebener Weise vorgenommene Querlüftung durchaus zu Gute. Der Kopf frei für neue (oder zumindest neu erscheinende) Begegnungen um den definierten „Schwerpunkt“ des Programms 2013: „Verhältnis von Ton und bewegtem Bild“. Was, so formuliert, kaum aufregend klingt. Ist, fragt man sich, irgendetwas denkbar, was ohne Ton und ohne Bild in Bewegung auskommt? Zumal, wenn man an den Mehrspartenbetrieb dieses Internationalen Festivals der Künste denkt: Musiktheater, Konzert, Ciné-Concert, Tanz, Bildende Kunst/Video/Installation, Theater/Performance. So sehr auch diese zweite Ruhrtriennale-Ausgabe unter Heiner Goebbels einer eingenordeten Ästhetik folgte, so klar deren Handschrift zu Tage trat, so unübersehbar hier tatsächlich um einen „Schwerpunkt“ herumgebaut wurde – so vergleichsweise ungriffig erscheint dieses Deutungsangebot. Überhaupt scheint sich diese Ruhrtriennale gegen Namen, Begriffe, Etikette zu sträuben. Nicht, weil alles zu vielgestaltig, zu verwirrend oder gar verworren oder sonstwie enigmatisch verrätselt gewesen wäre.
Nichts von alledem. Zu tun hat dies eher mit dem von Goebbels zu Beginn seiner Intendanz ausgegeben Ziel: „Kunst als Erfahrung“. Beschrieben ist damit tatsächlich eine Praxis. Und eine Einladung, adressiert erklärtermaßen an alle, ohne Schranken, ohne Beschränkungen – weshalb die intendierte Horizontöffnung via no education hier nur konsequent erscheint. Die Ruhrtriennale wie sie sich heute darbietet, ist der manifest gewordene Glaube an ein Theater, das aus Erfahrung kommt und in die Erfahrung hineinzieht. Weshalb die nach Festivalschluss mitgeteilten Besucherzahlen (90 Prozent Auslastung, 50.000 verkaufte Tickets) tatsächlich eine Bestätigung, vielleicht sogar verkappte Einlösung dessen sind, was als Kultur für alle! bis in das Frankfurter Milieu der 70er-Jahre zurückreicht, in dem Goebbels als Mitbegründer des so genannten Linksradikalen Blasorchesters ja seine Wurzeln hat.
Also: Erfahrungen machen, sich hineinbegeben. Eine Stelle, an der sich nachfragen ließe: Wohin? Die Antwort verweist einmal mehr auf das Spezifikum dieser Ruhrtriennale – ihre Räume, die umfunktionierte Industriearchitektur. Auch wenn diese den guten alten Konzertsaal ganz sicher nicht ersetzen kann (eine Einsicht, die sich bereits in der vorausgegangenen Ausgabe 2012 aufgedrängt hatte, siehe nmz 10/2012) – in einer Hinsicht sind all diese kathedralartigen Hallen doch für eines ausgesprochen gut: dem Moment der existentiellen Begegnung den Boden zu bereiten. Wie es schon immer die Architektur gewesen ist, die einer idealen Kommunikation zugearbeitet (oder sie verhindert) hat, so geht es auch in diesen ihr sakrales Vorbild kaum verleugnenden Industrie-Architekturen um Weglassen, Öffnen, Freiheit geben. Eben: Kunsterfahrungen ermöglichen.
Arrangement Abenteuer
Die getroffenen Grund-Arrangements Bühne-Publikum sind so gesehen von einigem Interesse. Etwa wenn Goebbels für seine bei der Ruhrtriennale wieder gezeigte Performance „Stifters Dinge“ die riesige abgedunkelte Duisburger Kraftzentrale wählt. Das Setting klar. Hier das Publikum auf steilen Rängen, gegenüber eine imposante Installationswand aus zusammenmontierten Klavieren, Schlagwerk in einer angedeuteten Waldumgebung. Dazwischen Wasserbecken. Dann die Erfahrung, wie das Bild in Bewegung gerät, Sprache und Musik evoziert, wie das Wasser in der Fantasie zu Eis wird (aus dem Off Stifters „Eisgeschichte“ aus „Die Mappe meines Urgroßvaters“), wie erst Bachs Italienisches Konzert, dann Indianer-Gesang, dann eine von einer Frauenstimme intonierte alte griechische Melodie den Raum füllt und wie die Wand schließlich auf den Zuschauer zufährt. Das Abenteuer, das in der realen Welt nicht mehr möglich ist (ganz wunderbar dieses Claude-Lévi-Strauss-Interview als Zuspiel) – es realisiert sich nun in der Kunst. Sie ist das Abenteuer, das mannigfache Überraschungen verspricht, neue Entdeckungen erwartbar macht, unausgeschöpft ist.
Man brauchte nur diese aus dem Geist einer bürgerlichen Sehnsuchtsromantik gewebte Installation erlebt zu haben, um zu verstehen, was die Kunst, wenn es nach Heiner Goebbels geht, in diesem Internationalem Festival der Künste zu tun hat.
Apropos Abenteuer. Im fantastischen Ockeghem-Konzert, das das umwerfende belgische Vokal-Ensemble graindelavoix in der Bochumer Turbinerhalle gegeben hatte, war es das Abenteuer des Hörens. Im großen Gavin Bryars-Porträt war es das der Meditation. Seine nach Innen gekehrten, leicht abgedrehten, von fern an George Harrisons sweeping guitar erinnernde Orchesterwerke hatte Bryars in den 70er-Jahren entwickelt und sich schon dort als unbedingter Fan des Ritornells zu erkennen gegeben. Und doch hat er in den Bochumer Symphonikern für solche Schleifen ausgesprochen aufmerksame Partner gefunden. Unter Leitung der estnischen Dirigentin Anu Tali sanken wir in „The Sinking of the Titanic“ ganz langsam auf Grund. Mit Teodor Currentzis und dessen Mammutorchester Musica Aeterna Ensemeble aus Perm tauchten wir wieder auf. Laut Programmheft lag Strawinskys „Sacre“ auf den Pulten. Currentzis Hang zum Exhibitionistischen zeigte sich hier wie in der als Uraufführung dargebotenen Abschiedsmusik „The Riot of Spring“ von Dmitri Kourliandski. Ein-Ton-Musik, wobei der Dirigent am Ende mit herrischer Geste alle Musiker in den Saal verbannt hatte. Ratlosigkeit.
Heiter bis wolkig
Damit allerdings schien in der Sparte Konzert das Bedürfnis nach wilder Fete gedeckt, sodass die Aufmerksamkeit ungeschmälert den beiden großen Musiktheaterpremieren zukommen konnte.
Zunächst Helmut Lachenmann „Das Mädchen mit den SchwefelhöIzern“. Robert Wilson hatte sich hierfür ein an eine Anatomie erinnerndes aufsteigendes Viereck in die Jahrhunderthalle bauen lassen. ChorWerk Ruhr und hr-Sinfonieorchester hoch oben in den Rängen, auf allen vier Seiten. Unten auf der Fläche ein weitgehend pantomimisches Spiel. Angela Winkler als Mädchen in Weiß, Wilson selbst als Gevatter Tod. Eine Ausgangssituation, die entgegen Wilsons eigener Intention, mit zunehmender Spieldauer alle Aufmerksamkeit absorbierte. Irgendwann hörte man die Musik fatalerweise als Illustration zu einem weitgehend nichtssagenden Geschehen. Dazu dies: Gemessen am überwiegend zarten Klang- und Geräuschtableau, erschien der zu bespielende, der zu beschallende Raum überdimensioniert. Folglich musste nachgepegelt werden. Im Ergebnis war die Verstärkung zu aufdringlich, sodass auch ein bewundernswerter Emilio Pomarico am Pult nicht nachbessern konnte. Indessen, soviel sei hier festgehalten, alles dies war mit dem Komponisten abgestimmt. Und doch – gegenüber der wunderbar intimen und zugleich fantasievollen Hamburger Uraufführung mit Achim Freyer konnte man sich mit diesem Mädchen nicht recht anfreunden.
So war es letztlich der von Heiner Goebbels selbst besorgten Eröffnungsinszenierung vorbehalten, den sprichwörtlich versöhnenden, heiteren Schluss bereits an den Anfang gerückt zu haben. Dass Harry Partchs Spätwerk „Delusion of the Fury“ mit „Rücknahme des Zorns“ zu übersetzen ist, passte ohne Frage. Auch hier Ton und Bild in Bewegung. In monatelanger Arbeit hatte Perkussionist Thomas Meixner die von Partch ersonnenen Schlagwerke nebst mikrotonalem Chromelodeon zu 43 Tönen in der Oktave nachgebaut. Goebbels seinerseits hatte ein Arrangement entworfen, das den Musikern von Ensemble musikFabrik alle Freiheiten einräumte. Bei denkbar geringen technischen Anforderungen, war der Spaßfaktor denn auch um so größer. Alle durften sich verkleiden, durften Pudelmützen aufziehen, im Wasser plantschen wie beim Kindergeburtstag. Dass Partch vorgesehen hatte, dass sein privates Mysteriumspiel vor der Zurücknahme des Zorns den Zorn selber zur Darstellung zu bringen hatte, dass erst das Drama und dann das Satyrspiel kommen sollte – blieb frommer Wunsch. Goebbels plädierte für Heiterkeit von Anfang an. Ganz aus dem Geist von Sergeant Pepper.