Ein wenig „erschrocken“ sei er schon gewesen. Komponieren, das sei doch Handwerk, Technik. Ja, sicher, als Komponist stehe er in permanentem Dialog mit seinem Material. Aber mit Gott? Dass Dieter Schnebel am Ende seines Kurzvortrags beim Symposium „Canticum novum“, das dem Forum neuer Musik des Deutschlandfunks vorgelagert war wie das Portal zum Kirchenraum, schließlich doch noch zu einer Antwort kommen würde, die in ihrer Einfachheit ebenso berührte wie sein von Studierenden der Kölner Musikhochschule empathisch ausgeführtes Passions-Stück „Lama“ für Streichtrio und Sängerin, dies durfte man irgendwie doch erwarten.
Denn immerhin, nicht erst seit gestern steht der Name des Künstlers für die gelebte Doppelrolle des Komponisten und Theologen. Insofern eigentlich Idealbesetzung für ein Musikfest, das sich auch in seiner 13. Ausgabe dem „Unabgegoltenen“ zu stellen vorgenommen hatte, wozu die Gretchenfrage aus Goethes Faust mit Sicherheit gehört. Hier verstanden, so Kurator Frank Kämpfer, freilich nicht als theologischer, wahlweise religionsphilosophischer Diskurs, sondern als künstlerische Frage nach der Begegnung von „avanciertem Komponieren“ und „individuellem Glaubensbezug“. Tatsächlich, am Ende zeigte sich: Es sind die alten, notorisch unerledigten Grundfragen der Existenz, die auch die zeitgenössischen Komponisten nicht nur bewegen, sondern die sie ihren Partituren einschreiben.
Alchemistisch
Was differiert, sind die Haltungen. Abwehr, Skepsis sind sicher Grundgefühle. Gleich der Eröffnungsabend ein Lehrstück darüber. Mit Brice Pauset war es wohl nicht zufällig ein französischer Komponist, der in seinem Deutschlandfunk-Auftragswerk noch einmal das Gegengift der rationalistischen Aufklärung in Stellung brachte. „Autopsie de la foi“ hatte er seinen großen Versuch überschrieben, die „Beziehung zwischen Göttlichkeit, Institution und Affekten“ zu klären. Noch einmal zu klären. Die Rezeptur dafür hatte etwas Alchemistisches. Teile einer Messe von Pierre de la Rue ohne Worte traten zu seltsam abgehackt gesprochenen Worten über Gedankenfreiheit aus Spinozas „Tractatus theologico-politicus“. Zudem versammelte Pauset mit ensemble recherche und Capella de la Torre neue und alte Musik auf einer Bühne. Und doch dauerte es lange, bis beide Formationen das Monologisieren aufgaben. Als sie ganz am Ende schließlich in eine Art Dialog eintraten, klang das Ergebnis allerdings kaum neu, sondern nach leicht abgestandenem Arvo Pärt. Als Werk blieb diese „Autopsie“ rätselhaft. Was sich vermittelte, war der Kunst-Ernst, mit dem Pauset vermeintlich längst erledigte, beiseitegelegte Fragen nach Gott, Kirche, Mensch, Freiheit neu verhandelte. Der Künstler als Anwalt der Autonomie.
Was nicht heißt, dass die komponierende Annäherung an Kreuz und Erlösung verschwunden wäre. Dafür stand Sofia Gubaidulina mit „Mich dürstet“ aus den „Sieben Worten“. Atemlose Stille im Kammermusiksaal, als der junge polnische Akkordeonist Krisztian Palagyi und der norwegische Cellist Erik Asgeirsson den schmalen Grat zwischen Leben und Tod körperlich spürbar werden ließen. Akkordflächen, die sich bis zum Umschlagspunkt nach oben schieben. Pizzicati im Cello. Das insistierende Begehren vor dem Ende allen Begehrens. Wiederum einen ganz anderen Akzent aufs Thema setzten Archaeus Ensemble Bukarest und Mihail Buca, ein zwischen Inbrunst und Kunstschönheit sich bewegender Sänger der orthodoxen Musiktradition Rumäniens. Neue-alte Querverbindungen zwischen byzantinischem und zeitgenössischem rumänischen Musikdenken nach dem Umbruch des politischen Systemwechsels. Ein Erlebnis.
Ersichtlich war damit das Feld weit abgesteckt. Sechs Forum-Konzerte, die jeweils einen ganzen Horizont öffneten. Schließlich: Mit der Kölner Jesuitenkirche St. Peter war erstmalig ein realer Kirchenraum als Forum-Konzertraum gewonnen. Zwischen 1987 und 2008 hatte der der wohl nonkonformistischste Pfarrer nördlich der Alpen in Zusammenarbeit mit dem Organisten Peter Bares die Kölner Taufkirche von Peter Paul Rubens zu einem einzigartigen Kreationsraum ausgebaut, zur „Kunststation St. Peter“. Kunst und Musik im Kirchenraum, die, obwohl im Kirchenraum, gerade nicht zum liturgischen Kotau gezwungen sein sollte und soll. Musik, so der kunstaffine Kirchenmann, muss autonom bleiben dürfen, darf sich nicht hüllen wollen ins alte Illusions- respektive Illustrations-Mäntelchen einer „milieuhaften“ Kirchenmusik.
Mobile, reformuliert
Wurde Mennekes nicht müde, das Unvermischt- und Ungetrennt-Sein von Kunst, Musik, Theologie mit Worten zu verkünden, so war es an St. Peter-Organist Dominik Susteck, darauf mit seiner stupenden Registrier- und Spielkunst die Probe zu liefern. Auf seinem Spieltisch die Partitur „Komposition 1 für Orgel, Stück VIII“ von Jörg Herchet. Musik, die sich jeder Gefälligkeit, jeder Bezugnahme auf eingeführte Konfektionsgrößen spiritueller Orgelmusik enthält. Musik voller Eigensinn, voller Rätsel. Ton, Akkord, Cluster in egalitärem Verhältnis. Eine Art reformuliertes Calder’sches Mobile aus dem Geist von Paul Klee. Ein tönend Gebilde, das Susteck, als säße er nicht an der Orgel von St. Peter, sondern an den Reglern eines intergalaktischen Sterngeburtshaufens, aufleuchten und wieder versinken ließ. Ganz nach Belieben. Musik, für die die Worte im Grunde noch nicht erfunden sind.
Überhaupt – Worte. Die gab es bei diesem Forum reichlich. Kein Veranstaltungstag ohne Vortrag, ohne Matinee, ohne Roundtable. Und doch, immer diese listige Dialektik: Je mehr es davon gab, desto ferner rückte, wonach man greifen wollte. Beim dritten und letzten Anlauf im Foyer des Deutschlandfunks waren es noch einmal Friedhelm Mennekes, Charlotte Seither, Samir Odeh-Tamimi und der rumänische Komponist Nicolae Teodoreanu, die sich auf die Suche begaben. Man probierte, betrachtete die Auslagen – spiritueller, liturgischer Raum, transzendenter Bezug, Mystik – bis Charlotte Seither zur allgemeinen Dankbarkeit mit „Kunst ist die bessere Theologie!“ immerhin einen griffigen Merksatz in die Runde warf, den selbst der eloquente Pater unkommentiert ließ. Vielleicht, weil auch ihm in diesem Moment das alte Beethoven-Wort über die Musik als der „höheren Offenbarung“ in den Sinn gekommen war, womit wir bei einer anderen Erkenntnis dieser Forum neuer Musik-Ausgabe 2012 angelangt wären: Aller Worthäufig-, respektive Gewaltigkeit zum Trotz – am Ende war es die Musik, die in ihren lichtesten Momenten gerade dort hineinleuchtete, wo die Worte schlicht versagten.
Kooperation
Was vielleicht das schönste Kompliment ist, das man über ein Musikfest treffen kann, wenn es sich als ein künstlerisches versteht und bewährt. Eines, das zugleich ein hohes interpretatorisches Niveau an den Tag legte. Die erfreulichsten Wirkungen auf die Qualität hatte dabei die noch sehr junge Kooperation zwischen Deutschlandfunk und der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Der Name dafür: ensemble 20/21. Die bis in die Fingerspitzen motivierte Formation von Instrumentalstudenten ist zwar erst zum dritten Mal dabei, aber vom Forum-Podium eigentlich nicht mehr wegzudenken.
Unter David Smeyers, Professor für Ensembleleitung Neue Musik, geriet auch das diesjährige Hauptkonzert am Samstag-Abend mit allein zwei Uraufführungen zu einem Höhepunkt. Eines der beiden Auftragswerke hatte man in ebenso mutiger wie weiser Entscheidung der jungen schwedischen Kompositionsstudentin Lisa Streich anvertraut. Mit „Grata“ für Violonchello und Ensemble, einer rein instrumentalen Vertonung des Gloria aus der katholischen Messe, konnte die angehende Künstlerin einen Achtungserfolg verbuchen.
Was alles möglich ist, spürte man dann allerdings bei „.....ergo sum“, einem meisterlich gearbeiteten Bekenntniswerk, mit dem Georg Katzer (als Einspringer für Adriana Hölszky) die Fähigkeiten von ensemble 20/21 auf die Probe stellte. Ein Tabla-Spieler vor dem Orchester, stoisch Viertelnoten schlagend, sorgt für autobiographische Erdung. Während es im Orchester irrlichtert, während von dort noch so eifrig Lockangebote ausgesandt werden, am Ende sogar die fünf Posaunisten dem einsamen Spieler vorn zu Leibe rücken – der Trommler bleibt im Takt. Ergo sum. Vielleicht die hoffnungsvollste Botschaft dieses Forum.