Toni Burkhardt (38), der seit 2009 Spiel- und Oberspielleiter am Theater Nordhausen war, bestimmt seit dem Saisonanfang als Operndirektor die Geschicke des Musiktheaters am Mecklenburgischen Staatstheater, im Gefolge des Intendantenwechsels von Lars Tietje von Nordhausen nach Schwerin, der dabei – wie heute üblich – seine künstlerischen Führungsteams mitgenommen hat. Jetzt prägt Burkhardt entscheidend Konzept und künstlerische Qualität des Schweriner Musiktheaters.
Sechs Musiktheater-Produktionen wird es in dieser Saison geben, einschließlich des Sommer-Open-Airs zu den Schlossfestspielen mit dem „Publikumszieher“ „West Side Story“. Das liegt quantitativ im Rahmen des bisher in Schwerin Üblichen, viel mehr lassen Publikumspotential und finanzielle Ressourcen nicht zu. Auch die notwendigen Balancen zwischen Tradition und Innovation sind nicht unstimmig, weil Werke des Repertoires, wie „Hoffmanns Erzählungen“, mit denen die Spielzeit eröffnet wurde, oder „My Fair Lady“, seit rund 20 Jahren in Schwerin nicht auf dem Spielplan standen; die für Mai vorgesehene „Margarethe“ von Gounod hat es gar in den letzten drei Jahrzehnten nicht in Schwerin gegeben. Mit der Premiere von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ in der letzten Woche, seit 1992 wieder auf dem Spielplan, ist nun auch die klassische Moderne vertreten. Ob der in den letzten Jahren befestigte Anspruch Schwerins, ein Hort für die moderne Oper zu sein, fortgesetzt wird, wird die Zukunft erweisen müssen.
Von diesen Neuproduktionen wurden bisher drei, „Hoffmann“, die „Lady“ und der „Grimes“, von Burkhardt inszeniert und auch die „Margarethe“ wird von ihm in Szene gesetzt werden – durchaus nach den Usancen des klassischen Stadttheatermodells. Damit ist zumindest vorerst das bisherige Schweriner Modell außer Kraft gesetzt: Auf der Basis eines stabilen Hausensembles mit wechselnden Gastregisseuren zu arbeiten, damit verschiedene Regiehandschriften vorzuführen und überregionale Tendenzen des modernen Musiktheaters zu reflektieren. Ab jetzt – so kann man vermuten – wird eine Handschrift dominieren.
Anlass zu stirnrunzelnder Sorge kann vielleicht die Tatsache bieten, dass die Schweriner Inszenierungen Burkhardts, mit Ausnahme des „Hoffmann“, mehr oder weniger genaue Remakes Nordhäuser Produktionen sind – was das Schweriner Publikum nicht stören muss, aber ein zwiespältiges Licht auf das Verhältnis von pragmatischer Bequemlichkeit und Innovationslust werfen könnte.
Auch sein Schweriner „Peter Grimes“ scheint nicht frei davon. Als Kopie der Nordhäuser Inszenierung von 2012 markiert sie nicht den neuesten Stand der Regie-Leistungsfähigkeit Burkhardts, der drückte sich deutlicher in seiner „Hoffmann“-Inszenierung ab: Im nicht durchgängig gelungenen Versuch, modernes Musiktheater zu bieten, mit einer gewollt originellen, nicht immer stimmigen Deutung der Geschichte, mit symbolischer Zeichenhaftigkeit und ausgestellter Künstlichkeit verblieb er in der heute bevorzugten Denkmasche, die Ursachen für ein Ungenügen an der Welt in der individuellen psychischen Befindlichkeit festzumachen – was modern aussah, aber in Wirklichkeit nur modisch war.
Im „Grimes“ ist alles anders. Hier zeigt sich Burkhardt als Anhänger eines zart modernisierten handlichen realistischen Musiktheaters, das Libretto und Partitur treu bleibt (wie auch schon in seiner „My Fair Lady“), auf spektakuläre Neu- oder Umdeutungen und allzu schrille, schockierende oder provozierende szenische Draufsattelungen verzichtet. Das ist von einem gewissen altmodischen Charme, der an bestehende ästhetische Erwartungen anknüpft, aber immer noch wirksam.
Gepaart mit seinem soliden handwerklichen Können, mit einer reichhaltigen Fantasie, die hier immer vom Konkreten ausgeht und dabeibleibt, hat er die Mitwirkenden zu einer runden, darstellerisch wie musikalisch gelungenen Ensembleleistung vereinigt, zu einer Aufführung, in der sich balladeske Schwere, soziale Genauigkeit und überformender Naturbezug überlagern, zu einem bewegenden und erhellenden Theatererlebnis – gutes, greifendes Mittelschicht-Stadttheater bildungsbürgerlicher Provenienz, nicht herausfordernd zwar, aber dennoch einen Spiegel vorhaltend. Hier entfaltet er den meisterlichen sozialen Expressionismus Benjamin Brittens in seinem dreifachen (vielleicht sogar zyklischen) Determinationszusammenhang, in den individuellen, den sozial-gesellschaftlichen und davor- oder dahinterliegenden transzendentalen Bedingungen. Mit genauer Figurenführung, mit mannigfachen erzählenden Arrangements, in der detailfrommen, fast naturalistischen Bühne von Wolfgang Kurima Rauschning, mit den von ihm selbst entworfenen, sozial charakterisierenden Kostümen lässt Burkhardt das Geschehen in seinen drei konzentrischen Kreisen wohl sortiert und eindringlich erstehen.
Zuinnerst die Individualgeschichte des Fischers Peter Grimes, eines schwierigen Charakters, eingeklemmt zwischen harter Daseinssicherung und introvertierten Sehnsüchten, deren Spannungen sich in blinder Wut entladen, aus der Bahn geworfen durch zwei tödliche Zufälle, für deren Verarbeitung er keine persönliche Strategie besitzt. Der irische Tenor Paul McNamara zeigt dies darstellerisch überzeugend, bewältigt die enorme Ausdrucksbreite sängerisch aber nur hinreichend.
Eingebettet in ein borniertes Kleinstadtmilieu mit scheinheiliger Moral wird sie zu einer Geschichte sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung, die Grimes zum Mörder stempelt und ihn schließlich in den gleichmütig akzeptierten Freitod treibt. In diesem Ring gelingen Burkhardt die überzeugendsten szenischen Leistungen, besonders mit der musikalischen Wucht des Chores (Einstudierung: Ulrich Barthel). Immer wieder beklemmend, wie dieser und die zuvor sorgfältig ausdifferenzierten Mitglieder der „Zivilgesellschaft“, die Fischer und Arbeiter, die Pub-Wirtin (Itziar Lesaka), ihre beiden Animiermädchen (Katrin Hübner, Petra Nadvornik), die würdigen Notabeln der Stadt (Igor Storozhenko als Richter, Sophie Maeno als klatschsüchtige Witwe, Christian Hees als Pastor, Cornelius Lewenberg als Apotheker), wie diese sich zum amorphen Klumpen Masse von gefährlicher Aggressivität zusammenballen – schließlich bewaffnen sie sich sogar als „Bürgerwehr“. Einzig die Lehrerin Ellen, mit der entschlossenen Innigkeit Kathleen Parkers der sängerische Höhepunkt der Aufführung, und Kapitän Balstrode (Espen Fegran) versuchen, Grimes zu helfen und das unheilvolle Geschehen aufzuhalten – aber vergeblich.
Eine metaphysische Dimension eröffnet der dritte Ring, das Meer: Verheißung und Drohung, die Poesie seiner Weite und der Schauder seiner Unergründlichkeit. In eindrucksvollen Videoeinspielungen und Überblendungen stets unheimlich präsent, besonders wirkungsvoll aber in den berühmten Orchester-Seestücken, von der Staatskapelle unter GMD Daniel Huppert vorzüglich musiziert, mit illustrativer bannender Expressivität.
Nur einmal verlässt die Inszenierung den haltbaren Boden des Realismus und meint, „symbolisch“ zu werden: ein großes, gefaltetes Papierschiff bestimmt die Bühne, in strahlender Weiße und Künstlichkeit, eher skurril als wirklich erhellend, in seinem gesuchten Symbolgehalt nicht klar dechiffrierbar. Es war nicht nötig, um, wenn die Vorgaben des Werkes so treffend sind, uns so betroffen zu zeigen, wie dünn und fragil – immer noch – der Lack unserer selbstgewissen Zivilisation ist.