Am 19. September endeten die am 9. September eröffneten Internationalen Händel Festspiele Göttingen mit der letzten Vorstellung der Jubiläumsproduktion „Rodelinda“ (HWV 19). Diese Oper stand 1920 am Beginn der Göttingen Händel-Renaissance durch Oskar Hagen. Laurence Cummings und Tobias Wolff wollten die Koproduktion mit dem Oldenburgischen Staatstheater unbedingt noch vor dem Ende ihrer Leitungsperiode herausbringen. Ab der Spielzeit 2021/22 übernehmen Jochen Schäfsmeier und der griechische Dirigent George Petrou das Festival.
Nein, Kostüm und Maske der Primadonna Anna Dennis als „Rodelinda 2021" haben keine Ähnlichkeit mit Fotoaufnahmen ihrer Partienvorgängerin Thyra Hagen-Leisner, welche 1920 im Deutschen Theater Göttingen daran mitwirkte, Händels Opern dem Vergessen zu entreißen. Das wäre durchaus möglich gewesen, weil der Regisseur Dorian Dreher und die Ausstatterin Hsuan Huang vorhatten, das zeitgeschichtliche und kulturelle Flair der Göttinger Händel-Renaissance zwischen den Weltkriegen in ihrer Inszenierung für die von 2020 in den September 2021 verschobenen Internationalen Händel-Festspiele zu reflektieren. Eine gewaltige Aufgabe. Denn 1920 fiel der Startschuss zu einem der langlebigsten Alte-Musik-Festivals mit der Akademischen Orchestervereinigung Göttingen und einer Besetzung, die man heute als semiprofessionell bezeichnen würde. Am Ende der Inszenierung dieses Jahres reicht ein Nazischerge dem vom Sekt angesäuselten kleinen Sohn der betörend lamentierenden Langobardenkönigin eine Fackel zur Bücherverbrennung.
Bis dahin reißt die erst von neuklassizistischen Wänden umrahmte Spielhandlung immer weiter auf. Dreidimensionale Kunstwerke der Moderne stehen Händels Figuren im Weg und peitschen sie in die überfordernde Gedankenfreiheit. Hsuan Huang spricht durch ihre stummen Kostüme sehr laut und deutlich: Rodelinda trägt Reformkleid und der schurkische Garibaldo einen Gürtel hoch über dem Nabel, wie ihn auch der mondäne Siegfried Wagner schätzte. Weniger die Personenregie als die Dekoration zeigte demzufolge die Irritation der Figuren zwischen Ethos und Antihumanität. Viereinhalb Stunden inklusive der beiden kürzeren Pausen lassen sich der scheidende künstlerische Leiter Laurence Cummings und der die Intendanz der Oper Leipzig übernehmende Geschäftsleiter Tobias Wolff Zeit für die szenische Parallelerzählung von Machtkitzel, Herzeleid und ideologischen Unruheherden – doppelt so lang also wie die „Rodelinde“-Bearbeitung von 1920.
Schade, dass ein für die entfallenen Göttinger Jubiläumsfestspiele 2020 geplantes Konzert mit Oskar Hagens „Rodelinde“-Bearbeitung nicht in „Händel 101“ übernommen werden konnte. Der Vergleich zwischen dem Herantasten an Barockmusik damals und den seither erworbenen barocken Aufführungskompetenzen wäre erstaunlich. Aber man kann es auch auf einer CD mit der Aufnahme des Reichssenders Stuttgart von 1937/39 nachhören: Oskar Hagen konzentrierte in seiner bis 1960 vielgespielten Fassung das Emotionen- und Intrigenkarussell von Nicola Francesco Hayms Originallibretto auf einen operntypischen Dreieckskonflikt von Sopran zwischen Bariton-Gatte und Störenfried-Tenor. Dabei bediente er sich für die treue Königin, den wieder auf den Mailänder Thron gelangenden König Bertarido und Grimoaldo (Grimwald) den Herrschsüchtigen eines deutschen Opernjargons mit Ideenanleihen aus Felix Dahns „Kampf um Rom“ und Richard Dehmels Paarkrisen-Sonetten.
Insofern bot die letzte Vorstellung der Leitungsägide Cummings/Wolff – natürlich im originalen Italienisch – eine aufschlussreiche Leistungsschau dessen, was sich in den letzten hundert Jahren an editorischer Rekonstruktions- und musikalischer Restaurationsarbeit verändern konnte. „Rodelinda“ hatte dieses Jahr im kleinen Deutschen Theater einen großen Atem, sogar unter Durchmischung mit mehreren Arien aus Händels späteren Bearbeitungen in die Uraufführungsfassung für London 1725. Also befeuert Bertarido seine Verzeihensgröße durch Koloraturdynamit. Genau das macht den Gnadenakt vor der angedeuteten Menschheitsdämmerung 1933 etwas hohl.
Vor allem beweist Göttingen, dass historisch informierte Aufführungspraxis auch ohne Weltstars zutiefst beeindrucken kann. Cummings fühlt sich in der sogar für einen Händel ungewöhnlichen Arien-Komplexität für die erlesen und echt leidende Langobardenkönigin Rodelinda besonders wohl. Er bekräftigt, dass er Lyrisch-Empfindsames höher schätzt als virtuose Langstrecken. Der Regisseur Dreher entwickelte für die Arien ein Bewegungsvokabular ohne Monotonie und Längen. Das zur letzten Vorstellung zahlreich angereiste Stammpublikum dankte mit Blumenwürfen und beharrlichen Ovationen auch dem bestens disponierten FestspielOrchester Göttingen.
Die Besetzung wirkte zutiefst authentisch, weil man Menschen statt Prunkstimmen erlebte. Der Tenor Thomas Cooley verbiss sich kundig in Grimoaldos Macht- und Liebesgier, Christopher Lowrey als inkognito heimkehrender Gnadenkönig Bertarido setzte auf Koloraturpräzision. Franziska Gottwald deutete im hellen Mezzo-Timbre die stille Verhärmung einer First Lady an, die bei heiratswilligen Spitzenfunktionären ewig die Zweite bleibt. Julien Van Mellaerts' macht als Garibaldo zum guten Schurken-Profil die angemessene Vokalrandale und Qwen Willetts bestätigte, das es in weniger exponierten Countertenor-Partien wie Unulfo dankbare Aufgaben gibt. Über allen brillierte Anna Dennis in der mit melodischen Perlenreihen gezierten Titelpartie. Sie sang, als habe Händel bereits geahnt, wie Mozart komponieren würde. An dieser „Rodelinda“ und ihrem Gefolge lässt sich lernen, wie man sogar bei satter Überlänge tragfähige Spannungsbögen baut und hält. Auch das ist für die jüngste Generation der historisch informierten Aufführungspraxis von nicht zu unterschätzender Bedeutung.