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Multimedia-Künstler Terre Thaemlitz. Foto: Petra Basche
Multimedia-Künstler Terre Thaemlitz. Foto: Petra Basche
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Lang und schmerzlos

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Das Berliner „Festival für Zeitfragen“ entlässt die Musikhörer aus der Verantwortung
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Unter der Leitung von Berno Odo Polzer hat sich die Berliner MaerzMusik zu einem Diskursfestival entwickelt. „Time Wars“ war die diesjährige Ausgabe überschrieben, die in einem eigens anberaumten Symposium dem „Krieg zwischen den Zeitlichkeiten“ nachging. Dazu kamen „Reading Groups“, Filme, Workshops und Podiumsgespräche – und ein Konzertprogramm, das den Spagat übte zwischen politischem Anspruch und unverhohlener Eventisierung. Ein elitärer Kulturbürger-Nimbus wurde so zwar unterlaufen, dafür herrschte ein Wohlfühlprogramm für den akademisch gebildeten Großstadt-Hipster.

Weil Diskussion und Reflexion in eigene Veranstaltungsreihen outgesourct waren, ließen die Konzerte selbst nun freie Bahn für den geschmacklichen Konsens. Die große Nachfrage nach der Musik von Julius Eastman etwa, die man zum Auftakt präsentierte, resultiert nicht unwesentlich aus den Umständen ihrer Entstehung: Eastman ist ein Dropout der amerikanischen Ostküsten-Avantgarde, schwarz, schwul, in die Obdachlosigkeit gedrängt, nach seinem Tod 1990 lange Zeit vergessen – und jetzt ein Mythos. Anfang diesen Jahres nahm der Verlag G. Schirmer Eastmans groben, mitunter lyrisch angehauchten Minimalismus ins Programm, wodurch eine weitere Kanonisierung gesichert ist. Und wirklich wohnte dem als „Vorspiel“ zum 10-Celli-Geholze „Holy Presence of Joan d’Arc“ (1981) konzipierten Solo für Stimme, in dem sich Sängerin Sofia Jernberg aus kindlicher Verzagtheit in markerschütternde Beschwörungen hineinsteigerte, ein faszinierend metaphysischer Groove inne. In Erwartung eines progressiven Ansatzes goutierte das Berliner Publikum auch den vermeintlichen Eastman-Klassiker „Feminine“ (1974) – und schluckte eine Kröte. Gerahmt von einem sägenden Schlittenglocken-Loop, imitierte Vibrafonist Simon Limbrick gut 70 Minuten den Klingelton eines verlorenen Mobiltelefons. Dazu wummerte desorientiert ein Synthi-Bass, und der Flügel brach in kitschig perlende Tschaikowsky-Läufe aus. So, wie das Ensemble Apartment House das Stück an jenem Abend darbot, musste man Eastman beim Komponieren zwangsweise polemische Absicht unterstellen.

Keinen geschmacklichen, dafür den humanitären (Minimal-)Konsens forderte das Programm in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal der heute vor Krieg, Armut und Verfolgung Flüchtenden ein: uneingeschränkte Solidarität. „Ich möchte nicht nur den Ertrunkenen, die an Europas Küsten angespült werden, ein Gesicht geben, sondern auch der großen Anzahl derer, die ohne jegliche Identität durch Europa irren und nicht als lebend anerkannt werden,“ so Georges Aperghis über die Beweggründe seiner Komposition „migrants“, die das Ensemble Resonanz mit den Sopranistinnen Agata Zubel und Christina Daletska unter Emilio Pomàrico uraufführte. Das Thema war bereits im Konzert des Vokalensembles Phønix16 angeklungen, in dessen Zentrum Iannis Xenakis’ brutale Anti-Kriegs-Fabel „Pour la paix“ für gemischten Chor, Sprecher und Tonband (1981) gestanden hatte. Musik, die so unmittelbar an das Mitgefühl ihrer Hörer appelliert, bedarf der Direktheit, der Nähe, der Grenzüberschreitung. Die sich als „Choir of the Cool“ gerierenden Phønix16 (Beanie! Basecap! Berghain!) schienen vom Ernst der Erzählung eher gebannt als mitgerissen – eine Statik, die durch die selige, kirchentagsartige Illumination noch verstärkt wurde. Xenakis’ Botschaft war drängend, doch der Hörer nicht wirklich berührt. Das änderte sich mit der zu Unrecht ans Ende des langen Abends, quasi an den dramaturgischen Katzentisch verbannten Ashley Fure. Auch wenn deren „Shiver Lung“-Serie (2016/17) keine direkten politischen Verweise bemühte, so lieferte ihre systematische Manipulation vibrierender Subwoofer eine Vielzahl beunruhigender Hörbilder – defekte Getriebe, entgleitende Kontrolle, latent brodelnde Wut –, die das Zeitalter eines erstarkenden Rechtspopulismus sinnfällig kommentierten.

Einen dritten Konsens, den mit der Popkultur, ging das Festival durch die maßgebliche Involvierung des queeren amerikanischen Multimedia-Künstlers Terre Thaemlitz ein. Als DJ brachte sein Deep-House-Set die Glastüren des Martin-Gropius-Baus gehörig zum Knarzen, nachdem zuvor das Live-Staging seines auf Speicherkarten vertriebenen Konzeptkunstwerks „Soulnessless“ (2012) zu Ende gegangen war. „Soulnessless“ besteht aus vier längeren Video-Essays zu Fragen von Gen­der, Migration und Körperpolitik – geistreiche, überraschende, auch witzige Erzählungen, in denen Thaemlitz immer wieder auf ein Grundthema zu sprechen kommt: Religion. „Ich hasse Spiritualität. Ich hasse alle spirituellen Lebensformen. Ich hasse spirituelles Denken,“ heißt es dort. Auf die Videos folgt als krönender Abschluss ein 30-stündiges Klavierstück im MP3-Format. Dessen Form, aus neun Takes zusammengesetzt, ist schnell erklärt: Bei gedrücktem Fortepedal werden zwei fast identische Cluster abwechselnd bis an den Rand des Verstummens verfolgt. Ungenauigkeiten im Niederdrücken der Tasten sind kein Problem, was dem ganzen Projekt eine rotzige Attitüde verleiht. In der vermaerzmusikten Live-Version standen zwanzig mit Matratzen bestückte Bühnenelemente wie Chill-out-Inseln um den Flügel verteilt.

Das widerständige Moment rückte vollkommen in den Hintergrund, stattdessen hielt im Piano-Marathon mit acht wechselnden Interpreten ein heroischer Durchhaltegestus Einzug, den Thaemlitz für die ursprüngliche Aufnahme noch explizit untersagt hatte. Wenn der Transgender-Künstler Spiritualität so hasst, hätte ihm dieses Ergebnis eigentlich ein Graus sein müssen: Denn das, was da im Atrium des Martin-Gropius-Baus Runden zog, war reinste Spiritualität, eine große Wohlfühl-Messe unter dem alles einenden Dach des Klangs, ein Safe Space für gestresste Großstadt-Hipster – quasi eine Vorausschau auf „The Long Now“, den Abschlussevent selbiger Couleur. Wie ein gutmütiger, aber eben auch omnipräsenter Hirte entließ die Musik ihren Hörer aus der Verantwortung. Aber warum nicht einfach fallen lassen? Denn fürs Nachdenken gibt es ja separate Veranstaltungen.

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