In unseren Welten des Digitalen, der Dystopien und Science-Fiction gab es gerade den „Vorlesetag“. Ganz sicher tauchten da die großen anderen Namen auf, die sich mit Erzählungen jenseits ihrer und unserer Welt befasst haben, damals vor über 150 Jahren. Neben den Brüdern Grimm gehört da der Däne Hans Christian Andersen zu den „Unsterblichen“. Einem Wendepunkt in seinem Leben ist ein unter Andreas Beck in Basel uraufgeführtes Werk gewidmet, das nun erstmals und überarbeitet im deutschen Theaterraum zur Aufführung kam.
Leidvoller Zauber des Nicht-Realen – Deutsche Erstaufführung des Musiktheaterstücks „Andersens Erzählungen“ über Hans Christian Andersen im Münchner Residenztheater
Von Beginn an ist die Luft von dem Ideal erfüllt, das Novalis 1799-1800 in seinen „Fragmenten“ für ein ganzes Zeitalter gefordert hat: „Die Welt muss romantisiert werden“.
Der schwarze Zwischenvorhang hebt sich zu einer Kutschenfahrt auf dem Meeresgrund. Neugierige Fischlein und zauberhaft durchsichtige Quallen umschweben den aufgeschnittenen Innenraum, in dem Andersen mit seinem frierenden Gegenüber, dem „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ plaudert. Er reist, wie sich herausstellt, beabsichtigt uneingeladen zur Hochzeit seines seit Studienzeiten geliebten Freundes Edvard.
Dort schwingt innige Zuneigung zur Braut Henriette „Jette“ Tyberg durch den kurzen Aufenthalt und im Kontrast die nicht belegbare homosexuelle Veranlagung Andersens. Alles spielt in Heike Vollmers Zimmern der Familie des damaligen Finanzdirektors Collin, ganz dem dänischen Maler Vilhelm Hammershøi nachempfunden: hell, klar, eher puritanisch möbliert. Doch binnen kurzem gelingt dem ganzen Team um Regisseur Philipp Stölzl diese Welt zu poetisieren, romantisch träumerisch zu weiten: Lichtzauber von Gerrit Jurda, Kostümphantastereien von Kathi Maurer, sensible Wortmalerei vom Duo Jan Dvorák und Philipp Stölzl, Andersens Märchenfiguren tänzeln herein, aus dem meerblauen Bühnenhimmel schweben märchenhaft surreale Landschaften und Bauten, vor allem aber Meermädchen singend herein – zentral die kleine Schwester, die Mensch werden will mitsamt der damit verbundenen Liebesverwirrung.
Gegenentwurf zu verstiegen Zeitgenössischem
Dieser Zauber samt seinen Irrungen und Wirrungen gelingt auch, weil ein Satz Andersens in Erfüllung geht: „Und die schönste Musik erklang in der herrlichen Nacht“ – der hochgelobte amerikanische Komponist Jherek Bischoff, ein Multitalent, hat seine große Baseler Partitur für das Münchner Schauspielhaus für sechs Kammermusiker und Stephen Delaney am Klavier umgearbeitet.
Was herausgekommen ist, spricht sofort an: Harmonien und Dissonanzen des „Lebens“-Klang bilden, vom harten, geräuschnahen Knall bis zur süßen Schwelgerei und atmosphärischem Gespinst einen in nahezu allen Nuancen tönenden Soundtrack; kleine Lieder von Jette, den Meerjungfrauen oder über den Prinzen hin zu allen Märchenfiguren im Chor – keine Überforderung oder opernhaftes Aufwallen, auch wenn beim robusten Edvard-Prinzen Thomas Lettow und Meermädchen Isabell Höckel vokale Grenzen etwas zu deutlich blieben. Dafür bezauberte Moritz Treuenfels als Andersen mit stupendem Klavierspiel romantischer Hausmusik. Insgesamt gelang ein einerseits hochartifizielles, aber eben musikdramatisch wie dramaturgisch sofort berührendes Musiktheaterstück – ein willkommener Gegenentwurf zu so vielem hierzulande zeitgenössische verstiegenen.
Wie dem Ensemble auf den Leib geschrieben
Angesichts der zentralen Rolle der kleinen Meerjungfrau, die mit dem zeitlebens zwar vielfachen, aber durchweg eher unglücklichen Lieben Andersens parallelisiert wird, brachte der gut kaschierte Austausch mit der expressiven Tänzerin Pauline Briguet auch noch etwas von der Poesie des Tanzes in die Mischung aus Realität und Hoffen-Wünschen-Sehnen-Träumen. Das war auch einem perfekt rollendeckenden Ensemble zu danken: mit dem wuchtigen Finanzdirektor Collin von Oliver Stokowski, seiner streng-klaren Frau von Cathrin Strömer, der Seelentiefe und Mädchenfrohsinn vereinenden Braut Jette von Linda Blümchen… dazu etliche Märchenfiguren hin zu den kopfüber hereinschwebenden und dennoch schön singenden Meerschwestern von Laura Richter und Fee Suzanne de Ruiter. Über all ihre reizvollen Porträts hinweg beeindruckte der den realen Fotografien Andersens frappierend ähnliche Moritz Treuenfels – inklusive des immer wieder notwendigen liebedienend unterwürfigen Rundrückens, der schlacksigen Körpersprache und einem nuancierten Sprechen. Ein Schicksal wird hier nahegerückt, anrührend und mitleidend.
Entsprechend endet es mit Bravo, begeistertem Beifall – und der Lust, nochmal einen analytischeren Blick in Andersens Märchen zu werfen.
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