Weihnachten steht vor der Tür. Was passt da besser als Puccinis Ohr und Herz wärmende „La Bohème“? Aber das Theater Lübeck setzte noch eines drauf. Es hatte den italienischen Regisseur Paolo Miccichè eingeladen, das Geschehen um die Blumenstickerin und den armen Poeten zu inszenieren (Premiere: 17. Oktober). Denn Miccichè ist bekannt dafür, durch Lichteffekte und Projektionen auch aufs Auge zu wirken.
Drei Flächen dienten in Lübeck, das bunte Leben im Pariser Quartier Latin spektakulär einzufangen. Den Einblick in die weiträumige Künstlermansarde im ersten und vierten Bild, die Sicht auf das Häusereck vor dem Café Momus im zweiten und dann auf den Vorplatz zum Stadttor im dritten Akt projiziert er auf vorn und mittig gehängte Gazevorhänge und eine Leinwand an der Bühnenhinterwand. Dort erzeugten seitliche Spiegelflächen zusätzliche Tiefe.
Atmosphäre durch Projektionen
Anregungen holte Miccichè sich bei den Bühnenbildern der Turiner Uraufführung 1896. Sie hatte der Deutsche Adolf Hohenstein entworfen, der sich in Italien Adolfo nannte. Er wurde zum Vorreiter für den Stile Liberty oder Stile Floreale, wie man den Jugendstil jenseits der Alpen nennt. Hohensteins Ansichten fügen sich so wie selbstverständlich in das von Martin Dülfer elf Jahre später gebaute Jugendstiltheater. Mancher Ausblick auf die Dächer und Türme im Quartier wirkte sogar wie ein Blick auf das Panorama der Hansestadt. Das schuf eine Atmosphäre, der sich die Besucher nur schwer entziehen konnten, wenn nicht das Dauergeriesel des Schnees das Auge ermüdet hätte.
Dass mit dem Bezug auf altes Bühnendekor keine bloße Retrospektive entstand, verhinderte nicht zuletzt die Überblendung im vierten Akt. Dort schob sich eine marode, langgestreckte Lagerhalle mit einer schönen Deckenkonstruktion und einer großformatigen Wandmalerei über das Mansardenbild. Verhärmt blickt eine maskulin anmutende Maria mit Kreuznimbus in verschiedenen Größen von den Gazeflächen herab. Der blaue, Kopf und Oberkörper bedeckende Umhang lässt eine Brust entblößt. Im rechten Arm hält sie das Jesuskind, das einen wachen, skeptischen Ausdruck hat.
Das Bild mit dem Titel „E la Madonna!“, in der Projektion seitenverkehrt, hat der Spanier Gonzalo Borondo als Streetartist in Bologna zusammen mit Cane Morto Ende letzten Jahres angefertigt. Es bewirkt auf einfache Weise einen Bezug zur Gegenwart, sprengt die zeitliche Enge der anderen Projektionen und gibt der Sterbeszene Würde, die sie der Sentimentalität entreißt. Miccichè geht auch sonst bewegt mit den Projektionen um, verändert sie in Farbe und Intensität oder überblendet sie. Das schmiegt sich eng an den emotionalen Strom, wobei allenfalls der riesige Mond zum Liebesduett im ersten Akt sentimental gerät. In einigen der intimen Szenen heben sich die Gazevorhänge, sodass die Spielfläche zum optisch unverstellten Spielraum wird. Da die raren Requisiten keinerlei Anspruch stellen, fordert dies intensiven schauspielerischen Einsatz der Sänger, was sie glänzend einlösen.
Beate Tamchina schuf unprätentiöse Kostüme, in denen sich wirkungsvoll agieren ließ. Bei seiner Personenführung allerdings verließ sich Miccichès ganz auf die Vorlage. Sie war eher simpel, auch wenn in der Straßenszene im zweiten Bild, wo bloßes Hin- und Hergehen Masse andeutete, die Hebebühne das Volksgetümmel von der Freundesrunde trennt und eine veritable Kapelle den Zapfenstreich intoniert. Und im dritten Bild passte der Schlendergang der Straßenfeger und der Michfrauen wenig zu der frostigen Jahreszeit.
Atmosphäre durch Musik
Musikalisch bot Lübeck zudem einmal mehr eine uneingeschränkt große Leistung. Die Mimi sang die junge Anna Patalong. Die Stimme der Britin besitzt ein weiches, rundes Timbre, ist selbst in den Spitzen nie scharf und wird von ihr dynamisch fein schattiert. Der Rodolfo war dem jungen Italiener Gabriele Mangione anvertraut. Sein sicherer, auch kraftvoller Tenor hat eine individuelle Farbe, die er selbst in der Höhe hält. Die weiteren Rollen besetzte das Haus mit eigenen Kräften. Voran machte das zweite Liebespaar Furore und erhielt großen Applaus. Evmorfia Metaxaki war dabei als Musetta in Spiel und mit ihrer schlanken, doch warmen Stimme ebenso überzeugend wie der wieder wunderbar präsente Gerard Quinn als Marcello. Steffen Kubach sang, wie stets sicher, hier den Schaunard und Taras Konoshchenko den Colline. Trotz einer Indisposition verabschiedete er sich im Schlussbild klangvoll von seinem Mantel. Die kleineren Partien hatten Sänger des Opernelitestudios oder Chormitglieder zu bewältigen. Sie wie auch der Opernchor und der Kinder- und Jugendchor Vocalino (Einstudierung: Joseph Feigl) erfüllten ihre Aufgaben mit viel Sanges- und Spiellust.
Zum Schluss ist zu vermelden, dass Roman Brogli-Sacher als ehemaliger GMD gekommen war, dieser Inszenierung Tempo, anfangs auch gehörige Lautstärke, zum Schluss aber immer sensiblere und weichere Farben zu geben. Die Philharmoniker leisteten im Streicherklang und bei den Solobläsern Beachtenswertes unter dem vertrauten Dirigenten.
- Weitere Aufführungen in diesem Jahr am 30.10., 7.11., 4. und 26.12. und im Folgejahr u.a. am 9.1., und 6. und 21.2.