In der Papierform das derzeit Übliche: jeglicher Ehrentag wird heutzutage in allen Medien nicht am exakten Datum, sondern vorweg abgehandelt und gefeiert. Dass Leonard Bernsteins runder Geburtstag statt am 25.August nun schon mit einem Musiktheaterabend gefeiert wurde, ließ dennoch fast den Kopf schütteln – und dann hingerissen staunen…
Die Bindungen des 1918 in Massachusetts geborenen ukrainisch-jüdischen Einwandererkindes Louis Bernstein, der sich dann als Youngster nur noch „Leonard“ und von Freunden „Lenny“ nennen ließ, an München reichen weit zurück und sind vielfältig. Trotz der Weigerung vieler Künstler angesichts des Ausmaßes des Holocausts wieder in Deutschland aufzutreten, nahm der als „Talent-Wunder“ gehandelte 30-jährige Leonard 1948 die Einladung des damaligen Münchner GMDs Georg Solti an: ausgerechnet am 9. Mai – also einen Tag nach dem damals sehr präsenten 8. Mai als Tag der Kapitulation – dirigierte Bernstein das Orchester der zerbombten Bayerischen Staatsoper im Prinzregententheater; er schrieb über die anfangs spürbaren Ressentiments der Musiker dass er sie „hinwegmusizierte“ – mehr noch: am 10. Mai spielte er mit 20 Holocaust-Überlebenden in den Lagern von Feldafing und Landsberg – vor über 10.000 Lagerinsassen. Seine damalige Notiz „sich durch Musik den Menschen zu nähern, die vorher nur Hass empfunden hatten“ kann wie ein Leitmotiv bis ins Jahr 1989 gesehen werden, als Bernstein am Brandenburger Tor „FREIHEIT, schöner Götterfunken“ singen ließ.
Dazwischen immer wieder München: Konzerte, Preise und als Höhepunkt der nach langen Proben und Voraufführungen dann aktweise Livemitschnitt von Wagners „Tristan und Isolde“ 1981 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Decca). Es war also mehr als bloße Nostalgie, dass jetzt im ersten Teil der vielfältigen Geburtstagsfeier ein altes, ramponiert schwarzgraues Dirigentenpult hereingeschoben wurde: es war das seit 1901 von Felix Mottl über viele, viele Taktstockgrößen bis zur Wiedereröffnung des Nationaltheaters 1963 genutzte Pult – und eben auch von Leonard Bernstein 1948.
Doch jetzt saß das Münchner Rundfunkorchester in Großbesetzung auf einem um wenige Stufen erhöhten Podium im hinteren Teil der großen Bühne. Am Pult stand Wayne Marshall, modellierte die schnell wechselnden Stimmungen und trieb alles mit Elan voran ohne zu hetzen. Denn zwei metiersichere Könner, Dramaturg Christof Kaldonek und Regisseur Hardy Rudolz, nutzten das ohnehin vorhandene jugendliche Temperament und stupende Können der 29 Mitwirkenden. Dass nämlich die aufgrund einer Erkrankung einspringende Starsopranistin Jennifer O’Loughlin mit kokettem Spiel und brillanten Koloraturen für „Glitter an Be Gay“ nicht als singuläres Highlight herausstach, war den vielen exzellenten Stimmen und einer „stunning show“ zu danken.
Von den Podiumsstufen herunter über die ganze Vorderbühne bis an die erste Parkettreihe servierten aktuelle Studenten der Theaterakademie August Everding, Absolventen und schon im Engagement stehende „Ex“ einen Querschnitt durchs Bühnenschaffen des Multitalents Bernstein. Everding hatte anlässlich des Ernst-von-Siemens-Musikpreises 1987 formuliert: „Bernstein sein heißt: Dirigent, Komponist, Pianist, Autor, Lehrer, Fernseh-, Pult und Gesellschaftsstar zu sein“. Viel davon war in dem fast dreistündigen, champagnersprudeligen Potpourri zu erleben. Da kontrastierte der Erlebnishunger der drei Matrosen in „New York, New York“ zum melancholischen Legatozauber von „Lonely Town“ von 1944. Die Love-Song-Süße von „Dream with me“ aus dem erst 2000 komplettierten „Peter Pan“ stürzte ab in düster traurige „Captain Hook’s Soliloquy“. Die ironische Insel-Buntheit von „Trouble in Tahiti“ (1952) wurde noch gesteigert durch die Entlarvung der Football-Fixiertheit amerikanischer Universitäten in „Pass the Football“ aus „Wonderful Town“ von 1951: da wird intellektuelle Minderbemittlung durch kesses Cheergirl-Gewirrle überdeckt.
In den chorischen Teilen aus „Mass“ von 1971 beeindruckte der Gesamtklang der 28 Stimmen. Dann war die tonale Modernität von „Mommy, are you here?“ aus Bernstein letztem Bühnenwerk „A quiet Place“ (1983) zu bewundern, ehe der Esprit und die Turbulenz von „Candide“ (1956) begeisterten – und die Dramaturgie pfiffig das Klavierlied „I hate music!“ von 1943 dagegensetzte – nur hat Bernstein sofort den Nebensatz komponiert „but I love to sing“ und weiterhin den ganzen Musikbetrieb ironisiert. Ein Misserfolg wie „1600 Pennsylvania Avenue“ wurde nicht verschwiegen.
Als am Ende dann in gekonntem Spiel, Tanz und Gesang viel von der Kraft der „West Side Story“ tobte, das fatale Ineinander von hasserfülltem Kampf und grenzüberschreitender Liebe in „Tonight“ strahlte, konnte allen 28 Talenten nur „Bravi!“ zugerufen werden. Die Zugabe „There’s a place for us“ führte direkt in unsere aktuelle Integrationsproblematik – da hat Bernstein mit Autor Stephen Sondheim eben einen zeitlos gültigen Klassiker geschaffen. Und etwas Grundsätzliches war zu erleben: Leonard Bernstein hat in unseren Jahrzehnten oft unpersönlicher, verstiegener und undurchdringlicher zeitgenössischer Musik Werke von unmittelbarer Kommunikation geschaffen, mal allgemeinmenschlich, mal persönlich, mal witzig, mal fetzig unterhaltsam - und immer human. Es gibt also viel zu feiern in Richtung 25. August. Der hinreißend servierte Abend aus dem Prinzregententheater ist am 4.März um 19.05 Uhr auf BR-Klassik nachzuhören.