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Der Spieler 2024: Sean Panikkar (Alexej Iwanowitsch, Hauslehrer der Kinder des Generals), Asmik Grigorian (Polina, Stieftochter des Generals). © SF/Ruth Walz
Der Spieler 2024: Sean Panikkar (Alexej Iwanowitsch, Hauslehrer der Kinder des Generals), Asmik Grigorian (Polina, Stieftochter des Generals). © SF/Ruth Walz
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Liebe in Zeiten des Turbokapitalismus – Prokofjews „Der Spieler“ bei den Salzburger Festspielen

Vorspann / Teaser

Zwei Dostojewski-Vertonungen gibt es bei den Salzburger Festspielen 2024 in der Felsenreitschule mit den Wiener Philharmonikern. Auf Mieczysław Weinberg „Der Idiot“ folgte Sergei Prokofjews relativ selten gespielte Oper „Der Spieler“. Dabei hat dieses Werk beträchtliches Aktualitätsappeal. Im Zentrum von Peter Sellars’ Regie stehen Asmik Grigorian und Sean Panikkar als faszinierend gegenwartsnahes Operntraumpaar. 

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„Ich liebe dich immer mehr, aber du behandelst mich unmöglich“, klagt Alexej Iwanowitsch bei der sich aus wirtschaftlicher Not Männern bietenden Polina. Die Verstrickung von Geld und Gefühlen ist total in der um den Ausbruch der Oktoberrevolution geplanten, aber erst zehn Jahre später – also 1929 – im westlichen Brüssel uraufgeführten Oper von Sergej Prokofjew. Da war allerdings Wsewolod Meyerhold als Prokofjews kongenialer Mitstreiter nicht mehr im Kreativ-Boot. Seither hat Prokofjews erste vollendete Oper eine zwar sprunghafte, aber exquisite Aufführungsgeschichte. In deren kompositorischer Faktur kreisen ständig die Roulettekugeln. Meist bewegen sich die Konversationen und Kantilenen der Partien um diesen rhythmischen Fokus. Unter der musikalischen Leitung von Timur Zangiev spielen die Wiener Phiharmoniker das derart penetrant, suggestiv und betörend, als hätte Prokofjew neben dem verhängnisvollen Kreislauf des Kapitalismus auch den von Herbert Marcuse mehrere Jahrzehnte nach Entstehung von „Der Spieler“ beschworenen Fetischcharakter des Kapitalismus vertont. Die 125-Minuten-Oper ist ein faszinierendes Stück. 

Und die zweite Vertonung eines Romans des realistischen Romanciers Fjodor Dostojewski aus Russland bei den Salzburger Festspielen 2024. Auch „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg entstand in einer für den Komponisten prägenden Zeit um 1986, wie die von Prokofjew. Beide Inszenierungen hatte die Leitung Festspiel-Stammregisseuren anvertraut, bei denen man in letzter Zeit im Erfolg auch zunehmend Routine feststellte. Krzysztof Warlikowski im „Idiot“, Peter Sellars im „Spieler“ ließen zu, dass ihre Ausstatter den magischen Aufführungsort der Felsenreitschule mit deren Bögen auf den Galeriegängen verbauten. Im „Spieler“ sind die Bögen mit gebrochenem und verschmiertem Spiegelglas gefüllt. Keine der Figuren steigt also noch durch zur eigenen Identität. Der Bühnenbildner George Tsypin lässt die Roulettekessel steigen und landen, als handle es sich um UFOs bei „Unbekannten Begegnungen der dritten Art“. Der visionäre Spielrausch der Titelfigur Alexej Iwanowitsch vollzieht sich in einem virtuosen Bacchanal einer von Alltagszwang getriebenen und von der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Leitung: Pawel Markowicz) mit motorischer Verve gespielten Masse. Camille Assafs Kostüme sind typgerecht, sinnfällig und treffen die von Peter Sellars teils choreographischer Virtuosität, teils gut motivierter Mattigkeit Figurenzeichnungen genau. 

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Der Spieler 2024: Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. © SF/Ruth Walz
Der Spieler 2024: Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. © SF/Ruth Walz
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Man kann es dem Regisseur, welcher das Risiko des Verlierens immer mitdenkt, nicht vorwerfen, dass er die Desaster der schmerzlichen Nüchternheit hinter der hektischen Beschleunigung des kapitalistischen Alltags einfängt. Sellars entwirft einen genauen Ablauf von äußerer Betriebsamkeit und menschlicher Ausnüchterung. Deshalb hat die Verarmung der gehandicapten Babulenka trotz der autoritätsvollen Durchdringung durch die persönlichkeitsstarke Violeta Urmana etwas Anrührendes. Deshalb sind Peixin Chen als General, Juan Francisco Gatell als Marquis, Michael Arivony als Mr. Astley, Nicole Chirka als Halbweltdame Blanche und Zhengyi Bai als Fürst Nilski mehr als Hülsen. An deren Oberfläche erkennt man, wie es um die Figuren tatsächlich steht. Prokofjew, aber auch Sellars zeigen eine beklemmende Anpassung, in der soziale Rolle und persönliches Anliegen konform werden. 

Ausnahme ist das zentrale Paar, dessen Liebe am eigenen Missverständnis untereinander scheitern muss. Alexej Iwanowitsch glaubt Polina zu gewinnen, indem er ihr Geld verschafft wie alle anderen. Aber damit zerstört er ihre Liebe zu ihm, weil er dadurch für sie wird wie alle anderen. Der Versuch einer Liebe, gar einer Beziehung außerhalb des kapitalistischen Triebwerks misslingt vollständig und desaströs. Das verdeutlichte Prokofjew in den von Dostojewski übernommenen Dialogen und drastischen Kraftausdrücken, vor allem durch seine gestisch geniale Musik.

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 Der Spieler 2024: Asmik Grigorian (Polina, Stieftochter des Generals), Sean Panikkar (Alexej Iwanowitsch, Hauslehrer der Kinder des Generals) © SF/Ruth Walz
Der Spieler 2024: Asmik Grigorian (Polina, Stieftochter des Generals), Sean Panikkar (Alexej Iwanowitsch, Hauslehrer der Kinder des Generals). © SF/Ruth Walz
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Jetzt hat man endlich den idealen Bühnenpartner für Asmik Grigorian. Auch als Polina ist sie zwischen bleiern intensiver Ruhe und konvulsivischem Aufbäumen mit Stimme und Spiel Zentrum der Aufführung. Ihr zur Seite in der riesigen Titelpartie des Alexej Iwanowitsch ist Sean Pannikar, dessen Karriere an großen Häusern bisher unverständlicherweise zwischen einerseits charismatischen, aber auch tendenziell belanglosen Partien verlief. Das sollte schnellstens anders werden, denn beide könnten das Opern-Traumpaar der 2020-er Jahre werden. Sie sind Persönlichkeiten, denen man das Funktionieren in den sozialen Systemen der Gegenwart abnimmt, sie wirken so, als ob sie wie heutige Zivilbürger theoretisch alles über die psychologische und hormonelle Dynamik des Menschseins wissen. Aber beide zeigen auch, dass sie sich nach dem sehnen, was noch möglich wäre und dass sie zu den riskanten Sprüngen aus der uniformierten Alltagswelt, von denen Oper so oft handelt, bereit sind. Grigorian und Panikkar werfen sich die Bälle der paradoxen Emotionen, der Sehnsucht nach Nähe und dem Verzweifeln an deren Unmöglichkeit zu. Jeder Ton, jede Bewegung setzt hier einen neuen Splitter im Erkenntnisstrudel, warum Liebe in Dostojewskis beklemmend gegenwartsrelevanten Panorama wehtut und die Seelen sich verwunden müssen, obwohl sie das Gegenteil wollen. Grigorian und noch mehr Panikkar zeigen das als Menschen von heute. So ist „Der Spieler“ mit diesem phänomenales Duo ganz großes Verlust- und Schmerztheater. Riesiger Applaus für alle.

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