Gibt es eigentlich eine weibliche Form für Kavalier? Der Rosenkavalier jedenfalls ist ein (von einer Frau gesungener) junger Mann von Stand, der sein Scherflein dazu beiträgt, die arrangierte Hochzeit zwischen einem sanierungsbedürftigen Landadligen und der Tochter eines Neureichen durch die Überreichung einer Silberrose einzuleiten. Was gründlich daneben geht, weil der sich selbst in die Braut verliebt. Als Rosenkavalier jedenfalls versagt dieser Graf Rofrano komplett. Als jugendlicher Liebhaber der Fürstin Feldmarschall Marie-Therese von Werdenberg und als Heiratskandidat für die Tochter des Herrn von Faninal Sophie hingegen ist er um Klassen besser.
Doch das ist nur das Drumherum für die vielleicht schönste, irgendwie fernste und zugleich doch wieder lebensnächste Schöpfung von Richard Strauss, für die er und sein kongenialer Dichterpartner Hugo von Hofmannsthal eine eigene Welt erfunden haben. Maria-Theresia-Rokoko im Walzertakt. Es ist ein Spiel mit den Fantasieangeboten eines fernen KaKanien, dass es so nie gab. Das Ganze wurde 1911, drei Jahre vor der ersten großen Jahrhundertkatastrophe, in Dresden uraufgeführt. Ein Sensationserfolg. Bis heute, neben den zwei blutrünstigen Einaktern davor, das Populärste aus dem Œuvre des späteren Reichsmusikkammerpräsidenten.
Als Kunst-Stück geradezu hermetisch, kann man die musikalische Komödie gleichwohl aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Sie kann für sich genommen mit Witz und klingender Opulenz schillern. Das geht aus der Perspektive der Entstehungszeit, sozusagen im Bewusstsein der anbrechenden Moderne mit einer langen Friedensperiode im Rücken – exemplarisch dafür steht Harry Kupfers aktueller Salzburger „Rosenkavalier“. In Kassel liefert Lorenzo Fioroni dazu jetzt eine Gegenposition. Zunächst gibt es nichts als den gähnend leeren, tiefschwarzen Bühnenraum. Dann senkt sich ein altmodisch opernhafter Vorhang und gibt sich als barocke Brecht-Gardine. Demonstrativ vorgeführtes Theater also. Ein barock aufgeputzter Ochs mit Allongeperücke schleicht sich von der Seite heran und wird magisch hinter den Vorhang auf die Bühne gezogen. Wenn der Vorhang hochgeht, sieht es dann doch aus wie fast immer. Ein melancholisch beleuchtetes, hochherrschaftliches Schlafzimmer mit einem mordsmäßig großen Bett und zwei jungen langmähnigen Frauen am Ende einer Liebesnacht. Und einem Automatendouble der Marschallin, einem Mohren als mechanischem Wunderapparat, fünf kleinen Kaminuhren und Dienern, die sich als barocke Damen verkleidet haben.
Die Gewissheiten über die Geschlechterrollen im Rosenkavalier kann man in Kassel völlig beiseitelassen, und doch bleibt Fioroni im Prinzip auf dem narrativen Pfad des Stückes, ja er setzt bewusst auf atmosphärisches Charisma. Ob nun in der verschusselt lädierten barocken Üppigkeit bei der Fürstin, ob im blank polierten und parfümierten Protz von Faninal, der erlegtes Großwild offenbar genauso gerne in sein Haus holt, wie er mit Übereifer den Altadel imitiert und auf eine familiäre Verbindung mit ihm scharf ist. Schließlich auch bei der großen Entlarvung des Baron Ochs in einem derben, selbstinszenierten Vorort-Theater im Beisl-Akt. Besonders da gibt es ein szenisches Crescendo um den „Rosenkavalier“ aufs Allgemeingültige, über die Zeit, die Liebe und den Verzicht, den Schmerz und die Verzweiflung hin zu befragen. Weisheit und Utopie als Auflösung aller Gewissheiten.
Aus den bisher verwendeten Kulissen wird zunächst eine Art Sperrmüllbeisl improvisiert, um dann die Bühne gänzlich leer zu räumen. Im Schlussbild kehrt Fioroni zu seinem Blick von außen auf das Stück zurück. Via Projektion wird in den ersten Weltkrieg marschiert. Als die drei Frauen beginnen, ihre Roben gegen Jeans und T-Shirt einzutauschen wenn sich das üppig barock kostümierte Personal mit erschrockenem Unverständnis von ihnen ab und verschwindet, jeder mit einem Koffer in der Hand, durch eine Hintertür in gleißendes Gegenlicht.
Blick aufs Vergangene vor allem einer aufs Vergehen
Der arg lädierte Ochs hat keinen großen Abgang, sondern einen leise resignierten über den Zuschauerraum. Und Marie-Therese, Sophie und die Ex-bzw. aktuelle Freundin, die sich gleichwohl Octavian nennen lässt, finden sich auf dem Sarg, der vom Beisl-Theater zurückgeblieben war, bevor Zwei übermütig davon, in irgendein Leben rennen und die Dritte am metaphorischen Stock ihrer Einsamkeit entgegengeht. Was in diesem Falle wohl sogar die wahrscheinliche Lösung ist, hatte sich die verlassene Marie Therese doch schon im ersten Akt im wahrsten Sinne das Herz aus der Brust gerissen. Hier holt zum guten Schluss auch kein Mohr irgendwie versöhnlich und augenzwinkernd das Taschentuch. Der war eh nur ein Menschenautomat.
Für Fioroni ist der Blick aufs Vergangene vor allem einer aufs Vergehen. Und die nächste Liebelei der Marschallin wird wohl eine mit dem Tod. Bei alle dem ist ihm das Geschlecht beim Wer-mit-Wem nicht so wichtig. Er bleibt zwar beim erotischen Knistern und dem Verzicht in diesem Beziehungsdreieck, aber es wäre schon ein großer Zufall, wenn auch Sophie eigentlich Frauen bevorzugen würde. Gleichwohl – es ist ein melancholisch irritierender „Rosenkavalier“ geworden, was den Kern dann doch wieder trifft.
Musikalisch glänzt überwiegend das Orchester unter seinem Chef Patrik Ringborg. Wobei der weniger den Goldstaub flirren lässt oder dem massenhaft versprühten Parfüm auf der Bühne noch eine klingende Komponente aus dem Graben beifügt. Er koloriert eher das ins Schlafzimmer herein wehende Herbstlaub. Konzentriert sich sonst aber vor allem auf die Sänger, ohne sie untergehen zu lassen. Bei denen schwebt die wunderbar zart und zugleich kräftig leuchtende Celine Byrne als Feldmarschallin über allem. Nicht nur ihr Sinnieren über die Zeit ist eine Glanzleistung. Wobei die spielfreudige Maren Engelhardt als Rosenkavalier(in) und auch Lin Lin Fan als zarte Sophie im großen Terzett am Ende zu einer wunderbar schwebenden und betörend verflochtenen Einheit finden und damit den vokalen Härtetest noch jeder Rosenkavalier-Aufführung glänzend bestehen. Friedemann Röhling steigert sich als nicht allzu dunkler Baron Ochs vokal merklich, punktet mit zunehmend geschmeidiger Eloquenz und spielerischer Eleganz, verschluckt allerdings einfach zu oft ganze Worte. Marian Pop versucht als Adelskarikatur Faninal nach Kräften aufzuschließen. Wie eigentlich immer müssen Jaclyn Bermudez (Leitmetzerin), Nassem Alkhouri (Valzacchi) und Belinda Williams (Annina) ihren Nebenrollen spielerisches Profil verleihen, was vor allem den Intriganten schon wegen ihres schwarzen Unterwelt-Outfits gelingt.