„Sunset Boulevard“, Billy Wilders Film aus dem Jahre 1950, hatte in Andrew Lloyd Webbers Musicalversion 1993 den Weg auf die Bühne gefunden. Seit vor wenigen Jahren die Aufführungsrechte für Stadttheater freigegeben sind, können sich auch kleinere Häuser daran versuchen, so wie jüngst das in Lübeck.
Wilders bitterböse Persiflage auf das Hollywood des Umbruchs vom Stumm- zum Tonfilm mag nicht das ganz große Zeitstück sein. Die Problematik einer alternden Diva, die nicht wahrhaben will, dass ihre Karriere ein Ende gefunden hat, steht aber gleichsam für Angst vor Vergänglichkeit, für schmerzhaftes Zerplatzen von Träumen, für ein trauriges Leben in Illusionen. Das sind selbst in der Musicalattitüde Themen, die beeindrucken. Und so, wie das Theater Lübeck den „Sunset Boulevard“ dann präsentierte, entstand eine theatralische Wirkung, die ankam. 10 Minuten Applaus beweisen das, eine Reaktion auf eine große Leistung, die erst einmal verdient sein will.
Mit der Realisierung war Michael Wallner betraut worden, Autor und Regisseur aus Österreich. Er kennt das Lübecker Haus und sein Ensemble im Sprech- und Musiktheater. Jetzt kam ihm das Verdienst zu, mit Gitte Hænning für die Hauptrolle einen herausragenden Gast gewonnen zu haben. Die in Aarhus geborene Sängerin hat längst das Image eines frühreifen Kinderstars verloren, der als Teenie einen „Cowboy als Mann“ wollte. Nimmt man den nicht ohne Witz gestalteten Schlagertext von 1963 ernst, deckt er zwei Lebensentwürfe auf, wie besorgte Eltern sie einst der Tochter erkoren. Die Mutter empfiehlt den Bahnbeamten von nebenan wegen der Pension, der Vater den Produzenten vom Filmkonzern, weil „ich wär sehr schön, ich hätt Figur wie die Loren.“ Tochter Gitte hat sich in Pop und Jazz, auch auf der Bühne, für eine eigene, sehr vielseitige Karriere entschieden. Dass sie nun als 70jährige im „Sunset Boulevard“ doch noch den väterlichen Traum realisiert, ist eine kleine Pointe.
Sie tat es überzeugend, konnte grandios bestehen gegen ihr filmisches Pendant Gloria Swanson, die mit gerade einmal 50 Jahren die gealterte Stummfilmgröße Norma Desmond verkörperte. Jung wie damals Gloria Swanson waren auch Patti LuPone 1993 zur Londoner Weltpremiere des Musicals und zwei Jahre später Helen Schneider und Daniela Ziegler zur deutschsprachigen Erstaufführung. Man kann deshalb den Mut der Dänin und ihr Können nur bewundern. Mit großer Bühnenpräsenz, ruhig und bestimmt gesetzten Gesten, vor allem aber wandlungsfähig im Sprechen und im Gesang machte Gitte Hænning deutlich, dass Alter kein Argument ist. Sie hatte in Rasmus Borkowski zudem einen versierten jungen Partner, der mit einer reifen Leistung den Altersunterschied von 40 Jahren vergessen ließ. Auch er war als Gast in seine Heimatstadt zurückgekommen. Beweglich und frisch und mit einer anpassungsfähigen Stimme gab er den gescheiterten Drehbuchautor Joe Gillis, machte sogar den Wandel plausibel, nicht der jungen Geliebten zu folgen, sondern sich der Verantwortung für die ältere Frau zu stellen und bei ihr zu bleiben.
Wallner hatte das alles geschickt inszeniert. Vor allem das Bühnenbild von Till Kuhnert half, Tempo und Freiraum zu bekommen. Ein turmartiges Gebäude mit riesiger Treppe, die allemal für Auftritte von Diven nötig ist, kreiste auf der Drehbühne. Es war, wenn nicht Freitreppe, von der einen Seite Paramount-Fassade, von der anderen der Palast der Norma. Die Turmseite diente zweistöckig entweder als Arbeitszimmer oder im Parterre als ‚Schwab’s Drugstore‘, dem historischen Treffpunkt der Filmschaffenden. Dazu war die Bühne mit Tauen verspannt, zwischen denen segelartige Flächen hingen. Alles wirkte leicht und beweglich, wurde zudem durch Projektionen sinnvoll variiert und besonders in der Schlussszene eindrucksvoll eingesetzt, zugleich metaphorisch überhöht, wenn die Diva wie in einem Spinnennetz gefangen in den Seilen hängt. Aleksandra Kicas hatte zudem mit ihren 188 Kostümen großen Anteil am Erfolg. Normas Roben in Schwarz-Weiß waren wohltuend wenig pompös, das schlichte Rot ihrer jüngeren Rivalin stach umso mehr heraus.
Katrin Kaufmann, auch sie ein Gast, spielte sensibel die Betty Schaefer, Autorin wie Joe. Zum Ensemble dagegen gehört Steffen Kubach. Bravourös gab er dem Max von Meyerling Stimme und Statur, changierend zwischen Butler, früherem Ehemann und Regisseur ihrer Erfolge und ihres Nachruhms. Die Rolle des Cecil B. DeMilles hatte sich nach dem Vorbild der Filmvorlage Regisseur Michael Wallner vorbehalten. Zwei Sänger des Opernelitestudios, Grzegorz Sobczak und Guillermo Valdés, waren eingesetzt und konnten jetzt in einem Musical ihre Vielseitigkeit beweisen. Mangels eines eigenen Balletts musste Lillian Stillwell nicht nur mit fünf Tänzern auskommen, sondern auch etlichen Choristen lockere Bewegungen beibringen. Das gelang erstaunlich gut und füllte die Bühne mit starkem, sinnvollem Leben. Auch den Gesangspart meisterte der Theaterchor in der Einstudierung von Jan-Michael Krüger so, dass insgesamt eine sehens- und hörenswerte Aufführung entstand. Im Orchestergraben hatte Ludwig Pflanz die Leitung. Er hatte sich auf die unterschiedlichen Stilarten Andrew Lloyd Webbers mit den Musikern der Lübecker Philharmoniker gut eingestellt, zumal er auf die verstärkten Stimmen wenig Rücksicht nehmen musste.
Im letzten Jahr war es die mitreißend inszenierte, stets ausverkaufte „West Side Story“. Ihr folgt jetzt der feinsinnige und emotionale „Sunset Boulevard“. Lübeck versucht mit starken Akzenten dem übermächtigen Hamburg im Musical-Bereich etwas entgegenzusetzen, offenbar mit Erfolg.