Der Händelzeitgenosse Leonardo Vinci (1690-1730) ist als jüngste Wiederentdeckung eine Gratisrendite des Barockbooms. Nachdem die Großmeister wie Händel oder Rameau im Repertoire etabliert sind und auch Telemann oder Hasse ihre Chance haben, weckt das bei den spezialisierten Interpreten und beim Fan-Publikum mit der Zeit Lust auf mehr neues Altes.
Cecilia Bartoli erwirbt sich hier gerade bleibende Verdienste mit ihren auf CDs gebannten Ausgrabungen. Aber auch der Counter Max Emanuel Cencic gehört als Sänger und künstlerischer Leiter seiner Parnaussus Art Productions in diese Reihe. Gleichzeitig bietet die Szene der Countertenöre in den letzten Jahren ein solches Niveau, dass man tatsächlich die in den Hoch-Zeiten der Kastraten und einer klerikalen Verbannung von Frauen von den Opernbühnen ausschließlich für Männer komponierten Vinci-Opern jetzt tatsächlich komplett mit exzellenten Countertenören besetzen und aufführen kann. So wie es die Oper Nancy mit ihrer Ausgrabung von Vincis „Artaserse“ vor zwei Jahren bewiesen hatte. Die machte, dank konzertanter Minitournee, CD- und DVD, bei den Freunden der Barockmusik gewaltigen Eindruck. Vinci war zu Lebzeiten ein Star, 1725 war er Nachfolge Alessandro Scarlattis als Leiter der Königlichen Hofkapelle in Neapel, Händel führte ihn in London auf, mit Pietro Metastasio war er befreundet.
Die auf ein Libretto dieses berühmtesten Librettisten seiner Zeit komponierte und 1728 in Rom uraufgeführte Oper „Il Catone in Utica“ konnte sich nach dem spektakulären „Artaserse“-Erfolg, jetzt in Wiesbaden als abschließender Clou der dortigen, das erste Mal unter der Intendanz von Uwe Eric Laufenberg durchgeführten, traditionsreichen Maifestspiele, der Aufmerksamkeit sicher sein. Wieder nur von Männer gesungen. Angeführt von den Superstars der Szene Franko Fagioli als Cesare und Max Emanuel Cencic als Arbace, sind auch die beiden Frauenrollen des Stückes mit dem aus New York stammenden Ray Cenez (der für den erkrankten Valer Sabadus als Marzia einsprang und seine Chance nutzte!) und dem in Kalifornien aufgewachsenen Südkoreaner Vince Yi (Emilia) ebenfalls mit Countern besetzt.
In der erstaunlich differenziert und rezitativ aufgerüsteten historischen Episode eines Kampfs um Rom am Anfang von Cesars Aufstieg zum Alleinherrscher, ist eine der beiden Frauen, die Tochter Catones, Mariza, die Verschiebemasse beim Kampf um die Macht. Bei dem stehen sich Titelheld Catone, den der Spanier Juan Sancho mit nicht allzu großem aber höchst flexiblem Tenor ausstattet, und Cesare gegenüber. Die andere Frau ist Pompeius Witwe Emilia, die mit Cesare noch eine Racherechnung offen hat und vergeblich versucht, den Mörder ihres Mannes auf eigene Faust via Hinterhalt zu Fall zu bringen.
Catone wird in Utica vom künftigen Dikator belagert und sieht sich selbst als Verteidiger der Freiheit. Er scheut aber nicht davor zurück, die Hand seiner Tochter Marzia dem potentiellen Bündnispartner, dem Numidierkönig Abrace, zu versprechen. Da Metastasio das Libretto geschrieben hat, liebt diese Marzia natürlich schon lange und heimlich den Feind des Vaters Cesare. Ihr Aufbegehren gegen diese Heiratspläne setzt das Hin- und Her aus Verzögerung der Hochzeit, eingefädelten Versöhnungsversuchen zwischen den politischen Gegnern sowie verborgenem Strippenziehen und offenem Eklat in Gang.
Schon wegen der Figurenbalance steht Cesare mit dem attraktiven und höchst mozartgeschmeidigen Martin Mitterrutzner noch sein General Fulvio immer im passenden Moment hilfreich zur Seite. Das Ganze mündet (wenn man so will kühn, weil ohne Happy End) in einer Katastrophe. Die kommt mit Cesares Sieg und dem verbürgten Selbstmord des historischen Cato zwar dem Gang der Geschichte nahe, hält sich dabei aber – geradezu aufrührerisch modern – nicht an die lieto fine Regel der Barockoper. Catone begeht hier einen bühneneffektvollen Selbstmord und verlangt im Sterben von Marzia, Abrace zu heiraten und einem Cesare Hass zu schwören, den er obendrein auch noch verflucht. Dass der erschüttert seinen Siegeslorbeer zu Boden wirft, ist durchaus nachvollziehbar.
Für das um diese Story mit seinen den Star des Abends zwar bevorzugenden, aber auch sonst gut verteilten Arien-Schmuckstücken angerichtete Sänger-Festmenü haben Regisseur Jakob Peters-Messer und sein Ausstatter Markus Meyer einen angenehm zurückhaltenden szenischen Rahmen gefunden. Die schwarzweiß Projektionen von urbaner Piranesi-Üppigkeit und anatomischen Gerippezeichnungen, garniert mit etwas waberndem Dampf und ziehenden Wolken, und der atmosphärische Beitrag der sechs Statisten, die mal als allegorische Masken oder Vögel, mal als Seestreitmacht (mit Segel-Schiffsmodellen auf dem Kopf) übers geometrisch gemusterte Parkett dieses Kammerspiel-Kampfes um die Macht geistern, lassen den Sängern genau den Entfaltungsspielraum, um sie als Gurgelakrobaten zur Hochform auflaufen zu lassen.
Vor allem Fagioli darf dabei im gefühlten Bravourarien-Endlosformat ein Seeunwetter und dann den Krieg vokalartistisch so imaginieren, dass es die Zuschauer auf die Stuhlkante treibt, die prompt bei der zweiten Arie, ganz barock-klassisch, eine Extraverbeugung erzwingen. Der Argentinier hat sich mit seiner makellosen Stimme, seiner technischen Perfektion zum langen Atem und seinem sprühenden Bühnen-Charisma zu einer eigenen Marke entwickelt. Diesmal lassen sein barocker Goldfummel und die Lockenpracht an „Der König tanzt“ aber auch an die Auftritte von Cecilia Bartoli denken. Ein Komödiant, der aus Versailles entlaufen zu sein scheint (wohin diese Produktion denn auch demnächst geht). Immer mit Grazie spielt er mit der barocken Geste, aber so, dass die immer frisch, nie nur abgezirkelt wirkt.
Gleich danach fasziniert Max Emanuel Cencic mit im Timbre nachgereifter, allemal selbstverständlich fließender, gefühlvoll fokussierter Stimme. Aber auch ihre beiden jüngeren Kollegen werfen sich mit gebündelter Rachewut (Emilia) und schnippischer Widerständigkeit (Marzia) in ihre Frauenrollen, die allein schon durch die prächtigen Roben zu einem Travestie-Kabinettstück werden.
Und dann Riccardo Minasi. Den könnte man fast zum Bühnenensemble rechnen, denn wie er mit der Violine in der Hand, dem Bogen und mit vollem Körpereinsatz den Vinci- Furor und die Gefühlsmalerei in die 20 Musiker des jungen, 2012 gegründeten Spezial- Ensembles Il pomo d’oro fahren ließ, das war neben dem Klanggenuss auch eine Extrashow für sich.
Am Ende tobten die begeisterten Fans im Saal. Kleiner Wermutstropfen: am Plattenstand im Foyer fehlte die gerade fertiggewordene Decca-Einspielung. Was auf das Konto des Poststreiks geht.