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Medea in Berlin? Dafür kriegt ihr mein Orchester

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Kunst im Auftrag eines Laienchores: „Medea in Korinth“ von Georg Katzer nach dem Libretto von Christa und Gerhard Wolf
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Die Konzertsaison 2002/2003 des Berliner Sinfonieorchesters beginnt mit einem Paukenschlag: Uraufführung der oratorischen Szenen „Medea in Korinth“, einem Auftragswerk der Berliner Singakademie, das der Komponist Georg Katzer nach einem Libretto von Christa und Gerhard Wolf schuf.

Die Konzertsaison 2002/2003 des Berliner Sinfonieorchesters beginnt mit einem Paukenschlag: Uraufführung der oratorischen Szenen „Medea in Korinth“, einem Auftragswerk der Berliner Singakademie, das der Komponist Georg Katzer nach einem Libretto von Christa und Gerhard Wolf schuf. N icht allein, dass sich damit besonders prominente Vertreter ihrer Zunft zu Wort meldeten – auch dass ein Laienchor ein solches Projekt als Auftragswerk vergeben hat und zur Aufführung bringt, ist eine bemerkenswerte Tatsache.

Die neue musikzeitung informiert auf den nächsten Seiten über die Hintergründe und die Entstehung dieses Projekts. Thomas Otto führte Gespräche mit Christa und Gerhard Wolf und Georg Katzer, den Autoren des Stücks, beobachtete Achim Zimmermann bei seinen Proben mit der Berliner Singakademie und traf sich mit den Auftraggebern.

Probensituation 1

Annäherung. Schrittweise. Achim Zimmermann will dem Chor ein Gespür für die Wirkung des Stückes vermitteln. Welche rhythmischen und klanglichen Strukturen sieht der Komponist vor, um den Konflikt darzustellen, den Medea auszutragen hat? Von Anfang an macht Zimmermann deutlich, wie außerordentlich wichtig die Aussprache des Chores ist, gleich, ob der Text gesungen oder, ganz im Stile des antiken Chores, rhythmisch gesprochen wird. Takt 1.121. Medeas Untergang ist bereits besiegelt. Sie hat das schreckliche Geheimnis entdeckt, auf dem die Stadt Korinth ruht. Sie ist zur Gefahr für die Herrschenden und zur unbequemen Mahnerin für all jene geworden, die die aufkommende Unruhe verdrängen wollen. Zimmermann deutet die Bewegung des Orchesters an: Sechszehntel-Triolen, „accellerando poco“, die Männer, sprechend, im Tutti: „Sie bringt die Stadt in Aufruhr“, dann weiter, singend: „Sie hat die Pest uns angehext.“ Als ob alle darauf gewartet hätten, geradezu befreit, reagiert der ganze Chor, die Stimmen in hoher Lage, als ein Zeichen der Hysterie: „Sie hat die Pest uns angehext.“ Medeas Schicksal ist bereits besiegelt...

Zu den vielen, die Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“ gelesen hatten, gehörte auch Nico Sander, Deutschlehrer an einem Berliner Gymnasium und „nebenberuflich“ Bassist bei der Berliner Singakademie. Als er mit Achim Zimmermann, dem Chordirektor, über seine Eindrücke von diesem Buch sprach, entstand bei den beiden ziemlich rasch die Idee, dass dies ein Stoff ist, der für ein Stück geeignet wäre, das die Berliner Singakademie singen könnte. Das Problem war: dieses Stück gab es noch nicht. Könnte man es nicht in Auftrag geben? Dazu müsste man zunächst mit Christa Wolf sprechen, dann einen Komponisten suchen und – Partner finden, die ein solches Unterfangen unterstützen würden.

Was den Komponisten betraf, waren sich die beiden schnell einig: Georg Katzer sollte es sein. Achim Zimmermann und Nico Sander sprachen zunächst mit Frank Schneider, dem Intendanten des Konzerthauses Berlin, über ihre Idee. Dieser sagte spontan: „Dafür kriegt ihr mein Orchester!“ Ein Schwerpunkt der diesjährigen Saison des Konzerthauses Berlin lautet „Mythen und Musik“. Dazu wurde eine Auswahl aus der großen Zahl von Orchester- und Kammermusiken getroffen, die auf Anregungen klassischer Mythen zurückgehen und diese vorgeprägten Stoffe mit ihrer jeweils eigenen Zeit in Beziehung setzen. Mit acht Konzerten ist das Berliner Sinfonieorchester in diesen Themenschwerpunkt eingebunden, unter anderem durch „Antigone“ von Mendelssohn und nun auch durch die Uraufführung der „Medea“. Frank Schneiders Zusage bedeutete immerhin: mit dem Berliner Sinfonieorchester würde der Singakademie bei diesem Projekt eines der Spitzenorchester Berlins zur Seite stehen. Es wäre nicht das erste Mal – die Reihe gemeinsamer Konzerte ist lang. Aber in dieser Konstellation würde es ein Novum und zugleich eine Herausforderung sein, wie es sie für die Berliner Singakademie bis dato noch nicht gegeben hat.

Die große Frage war jedoch zunächst, wer ein solches Vorhaben unterstützen würde. Nico Sander wandte sich in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft der Freunde der Berliner Singakademie mit einem Exposee an die Ernst von Siemens Stiftung, die sich recht bald bereit erklärte, mit einem stattlichen Anteil den Grundstock der Finanzierung bereitzustellen, an der sich auch die Stiftung Kulturfond Berlin beteiligte. Den Rest leistete die Gesellschaft der Freunde der Berliner Singakademie mit Geldern, die durch die Aktivitäten des Chores erworben wurden. Mit Ausnahme der Mittel aus der Stiftung Kulturfond Berlin kam die Entstehung des Projekts völlig ohne öffentliche Gelder aus. Einen großen Beitrag leistete natürlich das Konzerthaus Berlin durch die Zusage, sein Orchester zur Verfügung zu stellen und einen großen Teil der Aufführungskosten zu übernehmen. Und schließlich war auch der Berliner Senat am Zustandekommen des Projekts beteiligt: durch die Mittel der Chorförderung in Form von Zuschüssen, die die Berliner Singakademie für ihre Konzerte erhält.

„Es ist vor allem kulturpolitisch wichtig, dass dies ein Laienchor macht!“, findet Nico Sander. „Zum einen der künstlerischen Anforderung wegen, zum anderen, weil es zeigt, dass solche Partnerschaften durchaus möglich sind! Das ist ein Zeichen für die Stadt Berlin. Davon kann jeder lernen: In Zeiten schwieriger Kulturpolitik Initiativen zu ergreifen, die den Senat nicht automatisch viel Geld kosten müssen.“ Der Auftrag wurde Anfang 2000 offiziell erteilt, Ende 2001 sollte die Abgabe sein. Bereits im Juni 2000 lag der Klavierauszug vor! Katzer setzte seine Signatur am Heiligabend 2001 unter die fertige Partitur.

Probensituation 2

Die Sünde der Stadt Korinth hat einen Namen: Iphinoe. Des Königs erstgeborene Tochter, ermordet, um seinen Machterhalt zu sichern. Ein verklärter Mord, der dem Volk als Opfer verkauft wurde, als Opfer zum Wohle der Stadt, als Opfer mit Altar und Priesterin. Medeas Entdeckung lässt Zweifel aufkommen. Im Volk wird diskutiert. „Ihr alle habt es gewusst. Ihr alle habt uns belogen“, singen die Frauen. „Gebt Ruhe“, entgegnen sprechend die Männer, und: „hört auf mit den alten Geschichten“. Als die Frauen nicht nachlassen – „Unschuldig war sie, gebt es zu“ – höhnen die Männer: „Ihr wisst, wie gern wir euren Reizen uns unterwerfen, ha ha ha.“ Wieder und wieder arbeitet Zimmermann dieses Wechselspiel zwischen gesungenem und gesprochenem Wort, das von den Männern brutal beendet wird: „Nur lasst uns, was wir besser können: diese Stadt regieren“.

Welche Chance hat da Medea?

Über ihre Arbeit am Stück geben die beiden Autoren ausführliche Auskünfte (siehe Interviews). Aber wie erarbeitete sich Achim Zimmermann dieses so komplexe Thema?

„Von außen nach innen, vom großen Überblick bis in die kleinste Zelle“, sagt er. „Erst habe ich das Werk als Ganzes strukturiert: welche Stücke gehören zusammen? Im Prinzip kommt das einer Formanalyse gleich, was natürlich bei Beethoven leichter ist, weil es dort regelmäßige, ganz normal klassische Abläufe gibt. Die aber hat dieses Stück nicht. Man kann das auch nicht anhand des Klavierauszuges machen, weil erst die Instrumentation erkennen lässt, wie der Charakter dargestellt ist. Und nach diesem Prozess geht es dann natürlich wieder von innen nach außen. Es ist genau so wichtig, nachdem man dann die Einzelheiten kennt, wieder den Blick für das Ganze zu bekommen.“ Es gebe, so Zimmermann, bei „Medea“ ganz verschiedene Abläufe: riesengroße Chorszenen, die „chaotisch“ instrumentiert seien, bei denen man das Gefühl habe, es geht total durcheinander. Die Harmonie, die dem Stück „fehlt“, ist natürlich durch das Stück selbst begründet. So scheint es nur folgerichtig, dass Passagen fehlen, bei denen das Schwergewicht länger auf einer Szene belassen wird, einem Ruhepunkt gleich, ohne dass die Handlung gleich weiter vorangetrieben wird. In den klassischen Oratorien etwa übernimmt die Arie eine solche Funktion. Bei Katzer werden emotionale Aspekte zum Beispiel durch Klänge artikuliert.

Probensituation 3

Verleumdung. So macht man unschädlich, wer Unliebsames weiß und nicht nachlässt, es zu verkünden. Takt 1.572. Medea fassungslos: „Nun schreien sie es aus, ich selber hätte meine Kinder umgebracht. Greuel über Greuel, die Liebe ist zerschlagen. Finster ist die Welt bis an ihr Ende auch der Schmerz erstirbt.“ Das Volk lässt keinen Zweifel daran. Zimmermann ruft: „Fortissimo!“ Der Chor schreit es geradezu heraus: „Kindsmörderin“. Zimmermann bricht ab. „Fortissimo bitte und schärfer punktieren: Kinds-mör-de-rin!“ Dann, beinahe schaudernd über die eigene Gläubigkeit, fährt der Chor im Piano fort: „Durch die Jahrhunderte wird die Menschheit sich vor dir entsetzen...“ Und immer wieder: „Kindsmörderin“.
Was bleibt Medea, der Verleumdeten, als alle zu verfluchen?

Zum Repertoire der Berliner Singakademie gehört nicht nur Musik von Bach, Händel oder Mendelssohn. Jährlich steht zumindest ein Konzert aufdem Plan, bei dem auch Musik des 20. Jahrhunderts erklingt. In diesem Jahr waren es sogar zwei: Alfred Schnittkes „Requiem“ und das „Pax et bonum“ des Berliner Komponisten Heinrich Poos. Von daher sind dem Publikum der Singakademie Erfahrungen im Hören Neuer Musik nicht fremd und es ist bereits auf ein gewisses „Risiko“ eingestellt. Gleichwohl braucht es zum bewussten Hören der „Medea“ eine bestimmte Sensibilisierung, um die Dinge zu erkennen, so, wie sie gemeint sind. Die Befürchtung, dass das Publikum überfordert wird, besteht nicht? „Doch!“, antwortet Zimmermann. „Jedes Publikum ist mit solcher Musik überfordert. Denken Sie an die Biennale-Konzerte – das sind meist Insiderveranstaltungen. Dorthin kommen Lehrer und Schüler von Komponisten, Bekannte und Leute, die sich mit der Materie auseinander setzen. In ‚Medea’ gibt es zum Beispiel viele Passagen, die sind kammermusikalisch aufgebaut, wo das große Orchester gar nichts zu tun hat. Etwa, wenn Medea aus ihrem Leben erzählt, da spielt nur eine Harfe, quasi rezitativisch. Oder wenn es um den Tod von Iphinoe geht – ganz tiefe tremolando gespielte Bassflöten – das wird sich dem Zuhörer beim ersten Hören gar nicht erschließen. Das ist auch ganz normal. Selbst ein Vortrag vor der Aufführung würde das nicht einfacher machen.“

Viele, so vermutet Zimmermann, werden aus reiner Neugier kommen, nicht zuletzt, weil es sich um ein Stück von Christa Wolf handelt.

Die „Medea“-Proben stellten die Berliner Singakademie vor neue, bis dato nie gekannte Schwierigkeiten: die Komplexität des Stückes, sein komplizierter Aufbau, seine (dis-)harmonische Struktur, die verschiedensten Ausdrucksformen, die dem Chor abverlangt werden. Neu für Zimmermann war auch die Vielzahl der Schlagwerke, die vom Komponisten vorgeschrieben werden. Vieles, was davon in der Partitur steht, kennt man kaum dem Namen nach: „kleines Cecero mit Bogen spielen“, „Loktrum mit mehreren Feldern, auch mit Flummy“, „Bambusspendel“ etcetera. Umso wichtiger ist ihm deshalb, dass der Chor rhythmisch sattelfest ist, damit Zimmermann sich, wenn es denn drauf ankommt, auch um den Einsatz für das „Flexaton“ oder die „Glasmurmeln im kleinen Säckchen“ kümmern kann.

Die Probenphasen mit Chor stehen vor dem Abschluss, die gemeinsamen mit dem Orchester stehen bevor. Es ist eine immense Arbeit, die bis jetzt geleistet wurde. Und wie bei so vielen Stücken stellt sich die Frage auch hier wieder aufs Neue: So ein Stück müsste mehrmals aufgeführt werden. „Wir würden gern mit dem Orchester und dem Chor in München und Leipzig auftreten, oder in Hamburg“, meint Nico Sander. „Wir hoffen sehr, dass Leute aus anderen Städten kommen und sich das anhören und dann feststellen: das müsste eigentlich auch in unserer Stadt laufen. Das wäre erfreulich.“ Es wäre auch wünschenswert.

Probensituation 4

Der Schluss. Medea fragt: „Wohin mit mir? Ist eine Zeit zu denken, in die ich passen würde.“ Es ist der Chor, der ihre Verlassenheit verdeutlicht. Zimmermann nimmt die vier Takte und ihre Wiederholung im Piano: „Es bleibt der Himmel stumm und auch die Erde schweigt. Die Worte „stumm“ und „schweigt“, jeweils am Ende einer Phrase, will er intensiv ausgehalten wissen. Während er mit der rechten Hand die Viertel schlägt, führt er die linke geöffnet nach vorn, geradezu beschwörend, über die Länge des Taktes. Denn nun, nach drei weiteren Takten sparsamen Orchesters, wird Medeas Aussichtslosigkeit mit aller Härte deutlich. Alle Protagonisten, sowohl der Chor, als auch Glauke, Jason, Akamas, Leukon – selbst Medea – konstatieren das Ende: „Wohin sie ihren Blick auch wenden mag: Niemand da, den sie fragen könnte“. Zimmermann schlägt weiter, mit kleinsten Gesten das Pianissimo des Orchesters andeutend, welches schließlich ganz erstirbt, um jenen letzten Satz hörbar zu machen, den der Chor flüsternd deklamiert: „Das ist die Antwort“. Das Ende.

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