Georg-Friedrich Händels fünfaktiger „Teseo“ könnte gut und gerne auch unter normalen Bedingungen „Medea“ heißen. Besonderes aber in der Version, die Regisseur Martin G. Berger (33) jetzt von der eigentlich geplanten Inszenierung für die gecancelten Händelfestspiele auf Coronabedingungen herunter gedimmt hat. Momentan mit in Halle erlaubten 160 Zuschauern und den hinein inszenierten Abständen auf der Bühne. Und mit einer Besetzung, bei der neben dem Dirigenten am Cembalo, neun Musiker des Händelfestspielorchesters, die durch zwei in den Ranglogen ergänzt werden, diesmal reichen müssen.
Berger (und Dramaturg Philipp Amelungsen) greifen in die Stückstruktur, man könnte sogar sagen ins Genre ein. Sie machen aus allen weiblichen Nebenrollen des 1713 in London uraufgeführten „Teseo“ auf ein (zeitüblich verwickeltes) Libretto von Nicola Francesco Haym eine eigene 90-minütige Medea-Version. Christa Wolf nannte ihre Roman-Variante der berühmten Geschichte „Medea.Stimmen“. Bei der zweiten Premiere der neuen Opernspielzeit in Halle würde der Arbeitstitel „Medea.Reflexionen“ gut passen.
Neben der zentralen Figur Medea 2020, die von ihren originalen Arien zehrt, wird aus Agilea eine Medea 1958, aus Clizia eine Medea 1880. Als stumme Rolle wird noch eine kindlich elisabethanisch ausstaffierte Medea 1619 hinzugefügt. Damit ist die Zeitreise zum Thema der elementar, gegen die Herrschaft der Männer im Patriarchat aufbegehrenden Frau vorgegeben.
Das männliche Gegenüber dieser aufgestockten Frauenpower sind Jason (der bei Händel Teseo heißt) und Medeas Vater, dessen Kehle mit den Nummern des Egeo versorgt wird. Damit das Ganze als Medea-Psychogramm wiedererkennbar und halbwegs schlüssig bleibt, braucht es neben den Kindern (als berühmteste Mordopfer der Weltliteratur im Kindesalter) auch noch einen Bruder Medeas und eine attraktive Affäre für Jason, an der sich Medeas Eifersucht entzünden kann. Auge in Auge muss sich die Medea 1958 (Kostümbildnerin Esther Bialas hat daraus eine Frau der Marke „adrette Musterhausfrau aus der Werbung“) mit einer Art aufgedonnerter Sekretärin, auseinandersetzen, die lieber Marilyn Monroe wäre. Alle als stumme Rollen.
Musikalisch greifen Berger und Dirigent Attilio Cremonesi auf eine gängige Praxis aus der Entstehungszeit der Händeloper zurück und machen aus den Musiknummern ein Pasticcio. Aber eins, das nicht fremde, sondern eigene Nummern neu zusammenstellt. Cremonesi hat lediglich zwei kurze Orchesterstücke, den in ihrer Reihenfolge umgestellten Arien hinzugefügt und die Rezitative gestrichen. Dabei liefert nicht eine von A nach B verlaufende Handlung den roten Faden. Berger versucht, in einer Abstraktionsstufe über dem sowieso immer barocken Libretto-Wirrwarr, aus der Perspektive der Frau, in Gestalt einer exemplarischen Medea in verschiedenen Epochen, das Aufbegehren gegen die Männer auszuloten, die aus dem patriarchalischen Bauplan der Gesellschaft die Legitimation für ihren triebgesteuerten Egoismus ableiten. Beim ersten Auftritt hat Medea noch einen blutigen Teddy in den Händen. Gegen Ende aber schicken die Medeas der verschiedenen Epochen – sozusagen kollektiv – lediglich Jason zum Teufel. Auch keine (Ab-)Lösung fürs Patriarchat, aber schon etwas anders, als Kindermord aus Rache fürs Fremdgehen…..
Wenn zu Beginn die überlebensgroßen Medea-Alter Egos der verschiedensten Epochen, auf den weißen Zwischenvorhang vor das abstrakte Hexagon-Wohnkonstrukt projiziert werden, das Sarah-Katharina Karl auf die Drehbühne gesetzt hat, spürt man die Absicht. Aber man ist nicht verstimmt. Weil es zu einem in sich stimmigen Ganzen beiträgt. Der Mann (also Jason bzw. Teseo) bleibt als Prototyp der smart gegelte Anzugträger von heute.
Dass Corona die Anreise von zwei eigentlich vorgesehenen Countertenören verhinderte, ist zwar schade, aber ließ sich durch die gewachsene Händelkompetenz der Oper Halle kompensieren. Zumal als Medea 2020 mit Romelia Lichtenstein eine Sängerin zur Verfügung steht, die sich im Laufe ihrer Karriere immer die Geschmeidigkeit für virtuosen Händelgesang bewahrt hat. Diese aber mit ihren Erfahrungen in dramatischeren Gefilden anzureichern versteht. Wenn sie am Ende ihrer fast ein Dutzend Auftritte ganz wortwörtlich in schwindelerregende Höhe abhebt und ihr rotes Gewand unter ihr immer länger wird, dann ist dieser kleine Coup auch eine augenzwinkernde persönliche Referenz. Den verbliebenen, einzigen Gast in dieser Produktion, den aus Venezuela stammenden Sopranisten Samuel Mariño (27), darf sich die Oper Halle aber auch als eigene Entdeckung auf die Fahnen schreiben. Hier glänzte und funkelte er in Jochen Biganzolis Kultinszenierung von Händels „Berenice“ vor zwei Jahren das erste Mal überhaupt auf einer Opernbühne. Bei ihm kommt zur Ausnahmestimme auch ein quasi natürliches Bühnencharisma (bei dem man freilich Mühe hat, ihm den exemplarischen Fiesling Jason wirklich abzunehmen). Wie Jason hat auch Vanessa Waldhart als Medea 1958 Gelegenheit, ein halbes Dutzend mal mit barocker Gelenkigkeit und Gefühl zu glänzen. Das gelingt aber auch der prägnant intensiven Yulia Sokolik als Medea 1880 und dem Bassrecken Ki-Hyun Park als Vaterfigur mit ihren Auftritten.
Es ist eine Händelproduktion, die unter anderen Bedingungen, in einer der Hochburgen der Händelpflege so wohl nicht riskiert worden wäre. Aber sie leuchtet sozusagen von Innen. Durch eine anregende Idee, den klugen Umgang mit den Voraussetzungen und durch den Emotionsstrom der Musik und ein fabelfaftes Ensemble.
Die Zustimmung war denn auch herzlich und ungeteilt.