Auf den Tag genau 75 Jahre nach der Uraufführung von Olivier Messiaens „Quatuor pour la Fin du Temps“ in einem deutschen Kriegsgefangenenlager wurde das Stück dort vertanzt.
Im Nachbarland Polen ist derzeit vieles im Wandel, Grund genug, dass nun um den Fortbestand gewachsener Werte gebangt werden muss. Insbesondere jene Werte einer kulturellen Freiheit, wie sie nach dem Ende der kommunistischen Diktatur erkämpft werden konnten, scheinen heute besonders gefährdet. Da mochte man sich sogar schon gefragt haben, wie es künftig um eine Gedenkkultur bestellt sein mag, die von polnischem Boden aus europäische Ideen aufkeimen lässt.
Beispielsweise im grenznahen Zgorzelec, wo auf dem Gelände des einstigen Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII A an die am 15. Januar 1941 dort erfolgte Uraufführung des „Quatuor pour la Fin du Temps“ von Olivier Messiaen erinnert wird. Der französische Organist und Komponist hatte den Winter 1940/41 mitsamt Tausenden Häftlingen aus vielen Ländern Europas in diesem Lager verbracht – und komponierte in dieser hoffnungslosen Situation sein „Quartett für das Ende der Zeit“ als eine Vision von der Kraft des menschlichen Geistes selbst in schier ausweglosen Momenten. Ein Schlüsselwerk in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts, das seit acht Jahren jeweils zum Tag der Uraufführung wieder an dieser Stelle erklingt. Glücklicherweise hat dieses so wichtige Kontinuum genügend Eigenwert, dass es zumindest für den Moment nicht in Frage gestellt zu werden scheint.
Die Geschichte von der Quartett-Komposition im Lager war vor Ort bereits fast vergessen, ist heute aber wieder hinlänglich bekannt, da zu Beginn des Jahrtausends der Musiker Albrecht Goetze (1942-2015) nach Görlitz zog, weil er just dort leben wollte, wo diese Musik entstanden und uraufgeführt worden ist. Selbstbewusst erhob er die Stadt an der Neiße zur „europäischen Doppelstadt“ und steckte mit seiner Faszinationskraft eine Vielzahl von Menschen an, die seine Idee heute mit Leben erfüllen. Auf dem Gelände des völlig überwachsenen Lagers, wo einst Krankheit, massenhaftes Leiden und vielfacher Tod herrschten, wuchs ein Ort des Gedenkens und der Hoffnung heran. Vor allem ist ein Bewusstsein für dessen Vergangenheit und für die sich aus dem Besinnen ergebenden Chancen gewachsen. Mit Unterstützung aus Polen, Deutschland und von der Europäischen Union wurde eine ansehnliche Begegnungsstätte errichtete, die just am 15. Januar 2015 mit Messiaens Musik eingeweiht werden konnte. Von diesen Klängen war er derart beseelt, so Albrecht Goetze, dass er den Meetingpoint Music Messiaen e.V. initiieren, regelmäßige Januar-Konzerte etablieren und sich schließlich mit einer wachsenden Reihe von Mitstreitern für diesen Neubau engagieren konnte. Er hat das Konzertgebäude, das Raum für Ausstellungen, Büros und Tagungen bietet, nach Fertigstellung nicht mehr in Augenschein nehmen können. Die aus der Musik von Messiaen resultierende Inspiration Goetzes wirkt aber fort.
So auch in diesem Jahr, in dem die Veranstalter neue Formen des Gedenkens gesucht haben. Wie seit 2008 in fester Tradition und stets wechselnder Besetzung üblich, gehört das Quartett selbstverständlich dazu. Zum zweiten Mal erklang es im Neubau des Meetingpoint, sollte aber nicht zum hohlen Ritual verkommen und lediglich ein weiteres Mal aufgeführt werden. Auf den Tag genau 75 Jahre nach der Uraufführung im Kriegswinter 1941 ist Olivier Messiaens „Quatuor pour la Fin du Temps“ erstmals vertanzt worden. Vorangestellt wurde dieser Premiere das Klavierstück „Chloches d'adieu, et un sourire“ von Tristan Murail, einem 1947 geborenen Schüler Messiaens, der es 1992 unmittelbar nach dem Tod des Meisters komponiert hatte. Diese „Abschiedsglocken und ein Lächeln“ mahnten an das große Vorbild und waren in einer sehr virtuosen Interpretation der jungen, aus Zgorzelec stammenden Pianistin Justyna Chmielowiec zu hören. Im kommenden Jahr soll zum Januar-Konzert im Meetingpoint die Uraufführung eines neuen Werkes von Tristan Murail erklingen – und so die Kontinuität mahnenden Gedenkens lebendig halten.
Das blieb diesmal vor allem dieser vom Freiburger TAIMkollektiv ausgeführten Choreografie der ersten vier von insgesamt acht Quartettsätzen vorbehalten. Zwei junge Tänzerinnen (Susanna Grob und Marlene Kahl) stellten sich dem Wagnis, musikalische Assoziationen in Bewegtheit umzusetzen. Mal tanzten sie eins zu eins auf die Notenwerte, mal suchten sie nach bewegten Pendants zur Musik. Beim Klarinetten-Solo des 3. Satzes agierten sie synchron, im 4. Satz übertrugen sie die instrumentalen Wechselspiele auf ihre Körper. Für die komplette Choreografie des Quartetts fehle derzeit noch das Geld, hieß es, die folgenden Sätze sollten nachträglich choreografiert werden. Freilich provoziert der gezeigte Versuch auch die Frage, ob diese Musik solche Zusätze überhaupt verträgt oder von ihnen schlimmstenfalls nicht überlagert wird. Nötig hat sie sie nicht, wie die sehr sensibel musizierenden Künstlerinnen Bérengère Le Boulair (Violine), Flavia Feudi (Klarinette) und Laure-Hélène Michel (Cello) sowie der kurzfristig eingesprungene Pianist Hyeonjun Jo unter Beweis stellten.
Messiaens Klanglandschaften sind eindringlich bittere Kopfstücke, deren Töne teils wie aus dem Nichts kommen, in denen die Musik zum schieren Drama gerät. Tänzerische Experimente haben gewiss ihren Wert, können aber auch vom eigentlichen Gehalt ablenken. In der zweiten Quartetthälfte jedenfalls schien die musikalische Wirkung weit stärker, zumal keine in Perfektion erstarrte Ausführung zu hören war, denn in Nuancen hat es durchaus Gestaltungsspielräume gegeben, wohl aber eine intensiv ehrliche Deutung dieses so ergreifend tönenden Endes der Zeit.