Das Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz bespielt seit 1931 das Naturtheater Greifensteine im Erzgebirge. Dieses erstmals 1846 als Theater genutzte Felsenensemble hat Tücken, ohne Auto kommt man kaum hin. Und es hat ein riesiges Stammpublikum, das bereits 45 Minuten vor Öffnung der Einlasstore geduldig ausharrt, zielstrebig die besten Plätze ansteuert und in glänzender Laune kräftig mitmischt.
Auf den Felsen rundum ist immer etwas geboten, da posieren Ballettmädchen wie biedermeierliche Waldnymphen. Lakaien stehen gelangweilt an den Portalen. Ein Biertisch mit weißblauer Rauten-Tischdecke kommt weg, dafür ein paar Putten auf die Brüstung drauf: So funktioniert bei Bühnenbildner Tilo Staudte der Wechsel von Schloss Possenhofen nach Ischl zu den Habsburger Hoheiten, wo man wieder einmal Heiratspolitik einfädelt.
Ja, gespielt wird Fritz Kreislers Singspiel „Sissy“, En-Suite-Erfolg im Theater an der Wien ab Weihnachten 1932 und in den letzten Jahren fast vergessen. „Die Operette vor dem Film“ – so promotet das Eduard-von-Winterstein-Theater jenes mit Komödie, Salonstück und sentimentaler Operette kokettierende Opus von Ernst und Hubert Marischka.
Das Publikum im Erzgebirge ist bei diesem Sujet weit weniger sensibel als in Bayern, wo man zur Wiederaufnahme „Ludwig2“ im Festspielhaus Füssen vor wenigen Tagen die Positionierung von „Historie“ contra „poetische Verdichtung“ diskutierte wie eine Grundsatzfrage. Im direkten Vergleich fällt die Entscheidung schwer, welchem Stück die Palme gebührt: Der Neuschwansteiner Selbstfeier oder dem ach so arglosen „Sissy“-Singspiel… In beiden ist allerdings das ganze Wittelsbach-Habsburger Qui-pro-Quo interessanter ist als die Figur der Kaiserin Elisabeth selbst.
Die total offene Akustik des Naturtheaters eignet sich – streng genommen – für Musiktheater nur bedingt. Deshalb lohnt auch kein Live-Orchester, Soli und Chor werden wie in Füssen mit einer vorab produzieren Aufnahme zusammenführt. Dieter Klug hat zuletzt mit Zellers „Obersteiger“ im Frühjahr bewiesen, was für ein exzellenter Operettendirigent er ist. Nur deshalb muss er diesen Ort, einen Kapellmeister-Alptraum sondergleichen, nicht fürchten. Er gibt dem figurenreichen Ensemble Sicherheit.
Urs Alexander Schleiff hat das melodienreiche Baiser mit kundiger Hand szenisch aufgeschäumt, angerichtet, und garniert: Es herrscht eitel Idylle, wenn Sissy mit einem kleinen Segelboot auffährt und Herzog Max in den Starnberger See springt. Die Texte – mit Ironie und Parodie ist deren Gartenlauben- und Poesiealbum-Flair sicher nicht beizukommen – erfahren visuelle Entsprechung in den pastellenen Damenroben, in schneidigen Uniformen und erdfarbenen Trachten von Erika Lust.
Wer Romy Schneiders Sissi-Filme kennt und vielleicht sogar verstohlen liebt, erlebt keine Überraschung: Therese Fauser – berückend ähnlich den Jugendporträts der später psychisch angeschlagenen Monarchin – macht dem Kaiser zur ersten Begegnung gleich schöne Augen, als der sie beim verbotenen Rosenpflücken stellt. Christian Härtig ist ein ausgemachter Sympathiebolzen als junger Franz-Joseph, dem man nur zu sehr den Sieg gegen seine dominante Mutter Sophie und deren Cousine Luise von Bayern wünscht: Gisa Kümmerling und Bettina Corthy-Hildebrandt jonglieren mit Dünkel und Adelsstolz. Gelacht wird viel darüber, geschmunzelt noch mehr – die Begebenheiten erweisen sich wie gehabt als Teil des kollektiven Kulturgedächtnisses.
Dass man bei laufender pausenloser, zweieinhalbstündiger Vorstellung immer wieder Kaffee vom nahen Kiosk holt, geschieht nicht aus Langeweile. An den Greifensteinen spürt man die Verbundenheit des Publikums zu den Künstlern wie im Stammhaus: Frank Unger macht nach dem „Obersteiger“ auch beste Figur als Prinz Thurn und Taxis, der Elisabeths Schwester Helene doch bekommt, weil die den Kaiser partout nicht will. Verständlich bei dem „süßen Mädel“, als das Madelaine Vogt die Komtess mit dem eigenen Kopf spielt. Leander de Marels Pointenreservoir: Unerschöpflich, wenn Herzog Max in Bayern gegen Gemahlin und Erzherzogin rebelliert. Nur weil das alles gar so heiter ist, kommt kein Verdacht auf fahrlässiges Genderbewusstsein auf. De Marel grast das Feld der Lacher so ab, dass für seine Spielerkollegen fast nichts bleibt. Da hält allenfalls Jason-Nandor Tomory mit, der als Oberst von Kempen im bierseligen Rausch mit Rülpsern eine klitzekleine Privatrevolution gegen die Erzherzogin wagt. Auch Bettina Grothkopf rauscht auf als Balletttänzerin Ilona Varady, die Verwirrungen um die Rosendiebin auf die Spitze treibt. Michael Junge ist der von den Durchlauchten geschurigelte Zeremonienmeister, elegant und ein bisschen begriffsstutzig.
Das wichtigste also hat das Winterstein-Theater dabei: Ein Ensemble, das die von Urs Alexander Schleiff mit hinreichend bekannten Witzchen („Margarine/Migräne“…) angereicherte Melange mit Energie und hier unerlässlichen Mimenpranken durchspielt. Bei Kreisler und Marischka ist das alles adrett, während in „Ludwig2“ stellenweise die psychisch-dynastischen Hintergründe als Ursache von Lebensstörungen aufscheinen. An den Greifensteinen deutet sich das nur an, wenn Sissy Verliebtsein als Essbremse in Erwägung zieht – Therese Fauser tändelt darüber hinweg und dahin.
Sonst bietet man noch Kinderstücke, „Winnetou I“ pirscht durch den mitteldeutschen Mischwald bis Anfang September. Bei mehr Promotion wäre der Zuspruch gewiss noch größer, weil das Naturtheater Greifensteine (die Schreibweise ist sogar in der Kernregion nicht einheitlich) ein weithin aussterbendes Alleinstellungsmerkmal besitzt: Ursprünglichkeit und naturbelassene Selbstverständlichkeit ohne Optimierungsdesign. Und das bei rekordverdächtig günstigen Eintrittspreisen, denn wo gibt es heute Musiktheater mit über 100 Mitwirkenden für 16 Euro – bei freier Platzwahl! Da fehlt eigentlich nur noch der Regionalbezug, etwa Goethenahes wie Léhars „Friederike“ oder Schauerdramen des Freiberger Horrorautors Christian Heinrich Spieß – heraus damit!
Vorstellungen bis 03. September.