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Verdis „Il trovatore“ in Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Verdis „Il trovatore“ in Stuttgart. Foto: Matthias Baus

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Mit musikalischen Atempausen zum Weiterdenken – Verdis „Il trovatore“ in Stuttgart

Vorspann / Teaser

An der Staatsoper Stuttgart macht Paul-Georg Dittrich aus Giuseppe Verdis „Il trovatore“ einen herausfordernden, aber in sich schlüssigen Psychotrip. 

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Ein Musterbeispiel von Schauerromantik auf der Opernbühne oder eine Oper der Grausamkeit als passendes Stück zur Stunde? Argumente lassen sich im Falle von Giuseppe Verdis „Il tovatore“ für beides finden. Calixto Bieito schaffte es vor 22 Jahren mit seinem Brutalorealismus in Hannover noch zu einem ausgewachsenen Premierenskandal. Jedenfalls schlugen die Empörungswellen hoch. Paul-Georg Dittrich geht es aber, wie er im Programmheft-Interview sagt, darum, Verdi in seinem Postulat zu folgen, die Wirklichkeit auf der Bühne nicht nachzubilden, sondern eine zu erfinden. Dass er das kann, hat er zum Beispiel mit seiner „Elektra“ in Münster oder den „Meistersingern“ in Linz überzeugend demonstriert. Im konkreten Fall führt das zum Erinnerungsprozess einer ins Zentrum gerückten Figur. Das ist aber nicht Manrico, dessen Leidenschaft fürs Singen zu einem der wohl irreführendsten Verdi-Titel führte. Es ist auch nicht die von ihm angebetete Leonora oder die schicksalsumflorte Azucena, die Verdi selbst als Zentralfigur im Sinn hatte. In Stuttgart steht Graf Luna im Zentrum. (Übrigens haben Dittrich und sein Team in der allgemein um sich greifenden Lust, Operntexte von neuerdings tabuisierten Vokabeln zu säubern mit der Schreibweise Zigeunerin eine Variante hinzugefügt, mit der sich besser leben lässt, als mit (heute) als korrekt verordneten Ersatzvokabeln.) 

Verdis „Troubadour“ hat zwar keine Überlänge, aber er ist ein musikalischer und emotionaler Faustschlag. Der Plot ist an Brutalität und angehäuften Traumata kaum zu überbieten. Vor allem die Musik dieses 1853 uraufgeführten Geniestreichs führte ihn nicht von ungefähr in die Spitzengruppe der Repertoirerenner aus dem 19. Jahrhundert, bei denen man auch heute auf ihre unmittelbare Wirkungsmacht vertrauen kann. Noch dazu, wenn ein darstellerisch und vokal so überzeugendes Ensemble zur Verfügung steht, wie jetzt an der Staatsoper in Stuttgart. 

Dort kocht Antonello Manacorda im Graben die Emotionen mit dem Staatsorchester Stuttgart hoch. Zugleich lassen aber Paul-Georg Dittrich (Regie), Christof Hetzer (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüme) ihren Protagonisten immer genügend Raum in ihrem ambitionierten szenischen Zugang, um sich darstellerisch und vokal zu entfalten. Das gilt natürlich für die großformatig aufleuchtende Selene Zanetti als Leonora und für den geschmeidig höhensicheren Atalla Ayan als Manrico, die beide das tragische Liebespaar mit überzeugenden Rollendebüts auf die Bühne bringen. Die klassische Rolle des Baritons, der der Liebe von Sopran und Tenor in der Oper bekanntlich immer in die Quere kommt, ist mit Ernesto Petti als Graf Luna nicht nur in versierter Kehle. Er ist auch eine eindrucksvoll vitale Gestalt. Er steht dieses Mal mehr als üblich im Zentrum der Interpretation. Das innere Gefängnis seiner Traumata ist das Zentrum und der Ausgangspunkt der Inszenierung. Hinzu kommt Verdis Trovatore-Novität der dunklen Frauenstimme von Azucena, mit der Kristina Stanek die große Rächerin mit überzeugender Eloquenz auch gegen das Rollenklischee profiliert. Auch Michael Nagl als Ferrando und die übrigen kleineren Rollen sind adäquat besetzt. Der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor kommt nicht nur vokal, sondern im Tableauformat als Verkörperung von lädierten Soldaten quer durch alle Epochen eindrucksvoll zum Zuge.

Was Dittrich zeigt ist kein Massenspektakel, das versucht eine schlüssige Handlung zu erzählen. Was im Fall des anekdotischen Librettos von Salvadore Cammarano und Emanuele Bardare auch schwer zu machen wäre. Der Ausgangspunkt ist eine Hexenverbrennung, die traumatisch für alle Überlebenden wird und ein Räderwerk von Rache in Gang setzt. Dass die Tochter der barbarisch Getöteten in blinder Rache irrtümlich ihr eigenes und nicht das (ebenso unschuldige) Kind des Mörders ins Feuer wirft, das aber dann wie den eigenen Sohn liebt und als Instrument ihrer Rache aufzieht, ist selbst für Opernverhältnisse starker Tobak. Die detaillierten Schilderungen vom lodernden Scheiterhaufen sind es auch. Dittrich geht in seiner Inszenierung von der Ausgangskonstellation aus, dass zwei Grafensöhne einige Jahre gemeinsam aufwachsen und das Verschwinden seines Bruders für Luna zu einem Lebenstrauma wird. Dass Manrico auch nur schwer damit klarkommt, als er erfährt, wer er eigentlich selbst und wer sein Rivale bei der geliebten Leonora ist, versteht sich da von selbst. Für Dittrich sind die anekdotisch einander ablösenden Szenen bzw. Bilder eine Subtextvorlage, um das Lebenstrauma vor allem von Luna zu illustrieren. 

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Verdis „Il trovatore“ in Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Verdis „Il trovatore“ in Stuttgart. Foto: Matthias Baus

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Ein stets subtil ausgeleuchteter, sich nach hinten zu verjüngender Tunnelraum ohne Rückwand ist der Seelenort oder das Albtraumgefängnis, in dem sich die Bilder einander ablösen. Die bewusst wechselnde Ästhetik erinnert mal an einen Kinderspielplatz, mal an ein Westernauftritt inklusive von Schattenspielen an der Wand, dann wieder an einen surrealen Märchenwald. All das überdeckt das Anekdotische der Vorlage nicht, sondern macht es zum szenischen Prinzip. 

Dazu kommen die von Dittrich gerne verwendeten, auf den Vorhang projizierten kurzen Zitate, die in Kreidelettern auf die jeweils folgende Szene verweisen. Dieses Mal gibt es dazu inhaltlich passende und ästhetisch keineswegs störende Klangcollagen, die Christopher Scheuer aus Texten von Heiner Müller und mit den Stimmen von Camille Dombrowsky, Gabriele Hintermaier, Karl Leven Schroeder und Felix Strobel, man muss schon sagen: komponiert hat. Musikalische Atempausen zum Weiterdenken. Zum visuellen Weiterdenken provoziert das halbe Dutzend der die Figuren doubelnden Artisten. Verdis Furor als Breakedance-Nummer – das hat man so genau auf die Musik choreografiert und virtuos umgesetzt, wahrscheinlich noch nie zu sehen bekommen. 

Der Seelenraum ist zwar hinten offen, aber ein metaphorisches Licht am Ende des Tunnels gibt es nicht. Zum Finale ist auch Graf Luna so verzweifelt, dass er die Pillen nimmt, die Leonora – oder eine Traumvision von ihr – offensichtlich auslöschen. Jetzt beginnt sich der bis hierher starre Raum aufzulösen. Azucena, Manrico und Leonora verschwinden mit ihm aus dem Leben Lunas. Wenn dieser Raum dann wieder zu seiner Form zurückfindet, sitzt Luna von allem, was sein Leben bisher beherrschte, verlassen am Boden. Seine neue Hölle ist die absolute Leere. Wie zu erwarten, fügte ein kleiner Teil des Premierenpublikums dem allgemeinen Jubel für die Interpreten auch ein paar Einwände hinzu.

Premiere am 09. Juni 2024

  • Musikalische Leitung: Antonello Manacorda, Regie: Paul-Georg Dittrich, Bühne: Christof Hetzer, Kostüme: Mona Ulrich, Choreografie: Janine Grellscheid, Licht: Alex Brok, Dramaturgie: Ingo Gerlach, Chor Manuel Pujol 
  • Solisten: Graf Luna: Ernesto Petti, Leonora: Selene Zanetti, Azucena: Kristina Stanek, Manrico: Atalla Ayan, Ferrando: Michael Nagl, Inez: Itzeli Jáuregui, Ruiz: Piotr Gryniewicki 
  • Staatsopernchor Stuttgart, Kinderchor der Staatsoper Stuttgart, Statisterie der Staatsoper Stuttgart Staatsorchester Stuttgart 

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