Salzburg – Bayreuth – Gohrisch. Man muss diese drei ungleichen Festspielorte wirklich nicht als Kadenz bezeichnen, wie das eine Vertreterin sächsischer Landespolitik kürzlich tat. Eine Kadenz ist etwas anderes, doch zu einem gedanklichen Dreiklang taugen sie schon. Denn hier wie da und auch dort wirken Musiker der Sächsischen Staatskapelle mit. In Salzburg künftig zu den Osterfestspielen, in Bayreuth seit langem im Festspielorchester und in Gohrisch bei den Internationalen Schostakowitsch Tagen. Die fanden Mitte September zum zweiten Mal statt und waren nach dem Debüt 2010, das an Dmitri Schostakowitschs ersten Aufenthalt dort vor genau fünfzig Jahren erinnern sollte, erneut ein großer Erfolg.
Zum zweiten Mal drehte sich im Kurort Gohrisch in der Sächsischen u u Schweiz alles um Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975). Um den Menschen und um dessen Musik. Der Komponist war dort 1960 sowie 1972 im damaligen Gästehaus des DDR-Ministerrates zu Gast und schrieb beim ersten Besuch mit dem berühmten Streichquartett Nr. 8 cis-Moll op. 110 sein einziges Stück Musik außerhalb der sowjetischen Heimat. So richtig bekanntgemacht hat diese Tatsache erst der Musikwissenschaftler Bernd Feuchtner. Als Tobias Niederschlag, Konzertdramaturg der Sächsischen Staatskapelle, davon erfuhr, muss er so etwas wie eine Eingabe gehabt haben. Aus der Idee entwickelte er dann einen Plan, steckte mit seinem Enthusiasmus viele andere Menschen an, überwand alle Skepsis und hat so tatsächlich erreicht, dass in Gohrisch das weltweit einzige Festival ausgerichtet wird, das sich ausschließlich mit der Musik von Dmitri Schostakowitsch befasst. Dieser Idealist hat es geschafft, tatkräftige Mitstreiter zu sammeln, den Verein „Schostakowitsch in Gohrisch e.V.“ zu etablieren, namhafte Künstler/-innen zu gewinnen, die für ein Frackgeld von zehn Euro pro Vorstellung auftreten und Höchstleistungen bieten, sowie ganz nebenbei auch noch Sponsoren, Gönner, und zahllose Helfer zu finden.
Nach dem Erfolg des Vorjahres, genau fünfzig Jahre nach Schostakowitschs erstem und so nachhaltig kreativen Aufenthalt (das Streichquartett entstand in nur drei Tagen) schien erst einmal fraglich, ob jährlich daran angeknüpft werden kann. Doch dann stand rasch das gesamte Dorf hinter diesem Projekt, allen voran Bürgermeister Tom Vollmann, der gerne betont, ganz Gohrisch sei „mit Schostakowitsch infiziert“. Ganz Gohrisch? Nun, die Konzertscheune von 2010 war diesmal nicht verfügbar. In ihr lagerte heuer frisches Stroh, aus dem im Vorjahr noch klingendes Gold gesponnen wurde. Für Ersatz sorgte jedoch ein schneeweißes Zelt, das vom Zirkus Sarrasani als Konzertzelt vermietet wurde und optisch wie ein Fremdkörper am Ortsrand stand, akustisch aber den ganzen Ort dominierte. Selbst Anspielproben drangen durch die Leinwand über Gärten, Hecken und Häuser hinweg. Während der Konzerte waren letztere offenbar leer. Denn Einheimische wie Zugereiste füllten drei Tage lang die 600 Plätze im Zelt – und zwar für Musik aus dem vergangenen halben Jahrhundert, darunter eine deutsche Erst- sowie eine veritable Uraufführung! Manche Konzertsäle in Großstädten tun sich bekanntlich schwerer damit.
Natürlich birgt so ein Zelt auch akustische Unwägbarkeiten. Orchesterkonzerte klangen teils mulmig bis trocken, die waren in der Scheune besser aufgehoben. Bei Kammermusik aber funktionierte der Stoff. Zumindest so lange, bis sich zum Abschlusskonzert der Himmel auftat und unmittelbar nach der Nachricht vom Tod des Dirigenten Kurt Sanderling die gedrückte Stimmung noch heftig beregnete. Der Maestro des Jahrgangs 1912, ein enger Weggefährte Schostakowitschs, ist erst im Frühjahr mit dem Internationalen Schostakowitsch Preis Gohrisch geehrt worden. Spontan wurde ihm nun die Aufführung der 15. Sinfonie gewidmet. Die erklang freilich in der Kammerfassung von Viktor Derevianko, eine Reduktion des Monumentalen. u uDen Auftakt zum Festival setzte das umgekehrte Herangehen, Rudolf Barschais 1995 entstandene Kammersinfonie nach Schostakowitschs Streichquartett Nr. 1 von 1938, aufgeführt von Musikern der Staatskapelle unter Michail Jurowski. Der im November vorigen Jahres verstorbene Barschai bekam 2010 als Erster den Schostakowitsch Preis Gohrisch zugesprochen. Der deutschen Erstaufführung seiner Orchestrierung folgten Schostakowitschs furios-freches Konzert Nr. 1 für Klavier, Trompete und Streichorchester aus dem Jahr 1933 sowie die 1945 umstrittene 9. Sinfonie. Der Pianist Igor Levit brillierte gemeinsam mit dem Trompeter Sergei Nakariakov im Solokonzert und avancierte neben dem Cellisten Isang Enders zum Publikumsliebling in Gohrisch. Virtuosität und kluges Einfühlungsvermögen zeichnet beide Künstler aus, was Levit etwa mit den 24 Präludien Schos-
takowitschs bewies, die eine Lesung von Briefen an dessen Freund Isaak Glikman krönten. Vom eigens gegründeten Schostakowitsch Festival Quartett sind neben dem in Gohrisch entstandenen 8. Streichquartett auch die „Songs of Alkonost“, das Streichquartett Nr. 5 der diesjährigen Dresdner Capell Compositrice Lera Auerbach aufgeführt worden. Diese aus Stimmführern der Staatskapelle und des BR-Sinfonieorchesters bestehende Quartett-Formation, der neben den Geigern Kai Vogler und Korbinian Altenberger auch Bratschist Nimrod Guez sowie Isang Enders am Cello angehört, sollte unbedingt auch anderswo von diesem Ort künden! Es schien eine gute Idee gewesen zu sein, dem Werk Schostakowitschs diesmal Kompositionen einer von ihm durchaus beeinflussten Musikerin gegenüberzustellen, die obendrein als Pianistin brillierte.
Der gewachsene Zuspruch gab den Machern der Schostakowitsch Tage einmal mehr Recht, ihr Unternehmen auf Kurs zu halten. Denn Salzburg und Bayreuth sind Salzburg und Bayreuth. Nur Gohrisch ist Gohrisch!