Der Sommer war lang, heiß, dürr. Und sein „Loch“ gebar einen Kanon. Während die große Politik Urlaub machte, nutzte DIE ZEIT-Bildungsjournalist Thomas Kerstan die Ausgabe vom 16. August für das, was heute angesichts von Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Klimawandel für einen jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden wirklich wichtig ist: Hundert „Werke“ aus Literatur, Kunst, Film, Philosophie, Wissenschaften, Computerspielen und Musik. Ein Kanon dient der Bildung, Orientierungshilfe, Vielfalt, Demokratie, Diskussion, Integration und Verständigung über Gemeinsamkeiten bis hin zum „Wesen einer Nation“.
Von insgesamt elf Musikstücken nannte Kerstan jeweils eines von Bach, Mozart, Haydn („Kaiserquartett“ bzw. Nationalhymne), Beethovens IX. und Wagners „Rheingold“ von 1854. Und danach? Fehlanzeige, Ende der Musikgeschichte! Kein Mahler, Debussy, Schönberg, Strawinsky, Webern, Stockhausen, Cage. Dafür Songs von den Beatles und Stones, von Bob Dylan, Chuck Berry und Billy Strayhorn, wogegen nichts zu sagen ist. Jeder Kanon hat Lücken und blinde Flecken. Doch eine Liste ohne ein einziges Beispiel für Musik der letzten 170 Jahre jenseits von Beat und tonaler Harmonik wirkt nicht öffnend, orientierend, integrierend, diversifizierend, Sinne und Intelligenz weckend, fordernd, schärfend. Eine solche Liste wirkt wie eine Scheuklappe, exkludierend, konditionierend, kanalisierend, sedierend.
Auch andernorts klaffen Abgründe von Unkenntnis und Nichtwissen. Vielleicht deuten sie an, dass ein musikalisches Mittelalter anbricht, über das Nachfahrende dereinst schlicht nichts mehr wissen werden, weil während zwei Jahrhunderten angeblich nur gähnende Leere herrschte. Als vor fünf Jahren eine universitäre Umfrage den Musikgeschmack von Studierenden zu ermitteln suchte, stellte man rund vierzig Stilistiken zur Auswahl: Disco, Dub, Pop, Rock (Hard, Alternative…), Indie, Industrial, Metal (Heavy, Dark, Death, Japan…) Gospel, R’n’B, Motown, Hip Hop, Rap, Techno, Punk, Reggae, Ska, Schlager, World, Boiler Room, House, Jazz … Und irgendwo in der langen Kette mehr oder minder distinkter Stile fand sich plötzlich die Rubrik „Klassik“. Während man vierzig Jahre Popgeschichte einigermaßen differenziert abzudecken suchte, sollte ein einziger armseliger Oberbegriff genügen – gemeint war natürlich nicht die Wiener Klassik, sondern die sogenannte „E-Musik“ insgesamt –, um tausend Jahre Musikgeschichte abzudecken. Was für ein Wahnsinn! Ein Wort für zig verschiedene Gattungen und Verzweigungen von Musik in unterschiedlichste Richtungen, weltweite Ausprägungen, National- und Personalstilistiken vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Obwohl nicht bösartig und vorsätzlich begangen, tendiert solche Ignoranz gleichwohl zum Verbrechen.
Gegen derlei Kanonen schießen im Oktober glücklicherweise besonders viele neue Spatzen. Eine vielstimmige Salve an Uraufführungen zünden die Donaueschinger Musiktage vom 18. bis 21. Oktober. Die neuen Werke stammen von Giorgio Netti, Ivan Fedele, Malin Bång, Isabel Mundry, Marco Stroppa, Oscar Strasnoy, Brigitta Muntendorf, Marcus Schmickler, Florian Hecker, Enno Poppe, Klaus Lang, Agata Zubel, Rolf Wallin, Eduardo Moguillansky, Koka Nikoladze, Francesco Filidei, Jánis Petraškevics, Hermann Meier und Benedict Mason. Das Ensemble Musikfabrik präsentiert in seinen Konzerten im WDR-Funkhaus Köln am 2. und 27. Oktober Novitäten von Márton Illés und Justin Hoke. Der sechzigste Geburtstag von Karl Gottfried Brunotte wird mit gleich sechs Uraufführungen des Jubilars in drei Konzerten am 5., 14. und 21. Oktober in Bad Homburg und dem Frankfurter Dom gefeiert. Und am 26. Oktober sind in Freiburg drei Neuheiten zu erleben: in der Musikhochschule „Recycling“ für Marimbaphon von Otfried Büsing sowie im Reihenkonzert des ensemble aventure in der Elisabeth Schneider Stiftung „fEA“ von Ulrike Mayer-Spohn und Max E. Kellers programmatisches „1968 – Das Verkrustete aufbrechen“!
Weitere Uraufführungen:
05.10.: Peter Ruzicka, Loop für zwei Trompeten und Orchester, musica viva München
13.10.: Anno Schreier, Prolog und Epilog zu Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“, Opera Factory Freiburg
14.10.: Martin Herchenröder, 6 Miniaturen für Violoncello, Piano Salon Christophori Berlin
18.10.: Andrea Lorenzo Scartazzini, Torso für Orchester, Jenaer Philharmonie
19.–21.10: Festival „!!Vivier70!!“, neue Werke von Christoph Maria Wagner und Stefan Thomas, Alte Feuerwache Köln
21.10.: Rudolf Kelterborn, Duett für Viola und Gitarre, Musik Akademie Basel