„Much / Less“ - der Titel des neuen Tanztheaterstückes, das der italienische Gastchoreograf Giuseppe Spota für die neue Spielstätte U 17 am Staatstheater Mainz konzipiert hat, bleibt erst einmal rätselhaft. Der Inhalt erschließt sich rasch – dank der von Spota und Lucia Vonrhein geschaffenen Bühnengestaltung und der knappen Programmnotizen. Die rechteckigen Rahmen und Kästen auf der Bühne stehen für die digitale Welt, die in verschiedene Richtungen aufgespannten Schnüre für Verstrickung, und eine stilisierte Diskokugel für eine Tanzparty.
Aus den Lautsprecher klingt Technomusik, gemixt von Daniel Agema am Mischpult auf einem Podest. Per Lautsprecher begrüßt ein Operating System die Anwesenden mit der ölig-suggestiven Frage, ob sie „sozial“ oder „nicht sozial“ seien. Allmählich, eine nach dem anderen, schälen sich daraufhin vier Tänzerinnen und zwei Tänzer aus den aufgebauten Kästen und Türmen. Auf dem DJ-Pult erscheint eine weitere Tänzerin (Giulia Torri) im eleganten roten Kleid, die mit teils dominanten, teils lasziven Bewegungen ihren Führungsanspruch verkörpert und wie die buchstäbliche Spinne im Netz die anderen Tänzer zu steuern scheint – sei es per Autosuggestion, sei es durch digitale Fernsteuerung. Und so weiß man denn nie: Ist es eigener Wille oder Fremdlenkung, wenn die sechs vorgeblichen Individualisten sich aus vorhandenen Käfigen und Rahmen befreien, sich in Ecken verkriechen oder auf ihre Mitmenschen zugehen, wenn sie sich zu Tanzformationen gruppieren oder Partnersuche betreiben? Um oft genug dann wieder in neuen Käfigen, auf oder hinter stilisierten Bildschirmen zu landen.
Und wenn sie alleine oder miteinander tanzen, weiß man auch nicht so recht: Ist es Jazztanz, ist es Breakdance, sind es spontane Bewegungen in der Disko, oder agieren hier Marionetten, Roboter und Avatare? Die Musik ist lange von lärmender Unauffälligkeit, bis plötzlich ein Break eintritt und der Schlagzeuger Florian Schlechtriemen erscheint, um auf zwei Metallrahmen vertrackte Rhythmen zu hämmern. Nach einer Weile darf er sein Können auf einem vollständigen Drumset zeigen, wird aber wenig später von der wieder einsetzenden Lautsprechermusik übertönt. Die treibt die Tänzer weiter bis zum Ende der 65 Minuten-Aufführung, lässt kurz vor Schluss allerdings noch einmal aufhorchen … Interessanterweise ist es eine ganz traditionelle Harmoniefolge, die andalusische Kadenz, über der sich auf der Bühne der Höhepunkt aufbaut. Nachdem sich die dominante Tänzerin in Rot gelegentlich schon auf den Tanzboden, sozusagen „unters Volk“ gemischt hat, entledigt sie sich nun ihrer Garderobe, während der Rest der Truppe die vorhandenen Metallrahmen zu einem beleuchteten Schaufenster anordnet, in dem sie fast nackt dasteht, aber als Idol präsentiert wird. Narzissmus als Voraussetzung für Einfluss, weitestmögliche Selbstentblößung als Preis für Bewunderung!
Eine einzige Tänzerin verkriecht sich in einem der Kastentürme auf der Bühne und entzieht sich diesem Mechanismus. Dass die Mehrheit ihm „mehr oder weniger“ verhaftet bleibt, dürfte – trotz eines abrupten, nicht ganz überzeugenden Schlusses – die Botschaft dieses Tanzabends sein, dem laut Programmnotizen viele persönliche Erfahrungen der Mitwirkenden mit digitalen Medien zugrundeliegen.
Wie hat es vor einer Weile der in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han formuliert: „Das Internet manifestiert sich nicht als ein Raum des gemeinsamen, kommunikativen Handelns. Es zerfällt vielmehr zu Ausstellungsräumen, in denen man nur für sich wirbt.“ Was sich „sozial“ nennt, zerstört die Gesellschaft, was sich entzieht, bleibt ohne Einfluss. Es ist eigentlich eine sehr pessimistische Aussage, die das vorwiegend junge Publikum in U 17 begeistert beklatscht.