neue musikzeitung: Ich möchte gern mit Ihnen über das Genre „Oratorische Szenen“ sprechen. Die Form des Oratoriums hatte ihre Blütezeit zur Mitte des 18. Jahrhunderts (Händels „Israel in Ägypten“ oder „Belsazar“) bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Mendelssohns „Elias“ 1838). Beziehen Sie sich mit der Wahl des Genres auf diese Tradition?
Georg Katzer: Zunächst mal ja. Es hat die eigentlichen typischen Parameter eines Oratoriums. Es gibt Solisten, es gibt Chöre, es gibt einen Sprecher. Da ist der Erzähler, wie er auch im klassischen Oratorium vorkommt. Allerdings tritt der Erzähler, anders als im klassischen Oratorium auch als agierende Person hervor. Diese Partie ist angelegt als eine Sprechpartie, die aber durchaus auch gesungen werden könnte, von einem Sänger mit einer guten Sprechdiktion. Ich habe für diese Aufführung einen Sprecher, Winfried Wagner, gewählt. Was sich vom klassischen Oratorium unterscheidet, ist die Struktur, die schon durch das Libretto bedingt ist: sehr dramatisch, weniger episch als in den klassischen Oratorien. Es hat eine durchgehende Handlung, die stringent auf das Ende zuläuft. Aus diesem Grunde spreche ich nicht von einem reinen Oratorium, sondern von „oratorischen Szenen“.
: Ich sehe es auch als eine Opernmöglichkeit. Nachdem ich das Libretto gelesen und analysiert hatte, bin ich sogar davon ausgegangen, daß es sich um ein Opernsujet handelt. Nun gibt es im Berliner Konzerthaus nicht die Möglichkeit, so etwas szenisch aufzuführen. Aber es wäre für mich durchaus denkbar, diesen Stoff auch auf eine Opernbühne zu bringen. Ich müsste da nicht mal viel dran machen. Ich habe auch optische Vorstellungen – nur ein Theater dafür habe ich noch nicht... : In den großen Oratorien wie auch in den Passionen oder der frühen Barockoper wird in der Werkstruktur die Rolle des Rezitativs dadurch gekennzeichnet, dass es den Handlungsstrang vorantreibt. Es erzählt die Geschichte. Bei Ihnen kommt das Rezitativ als solches nicht vor. Stattdessen haben Sie den Sprecher als Erzähler in Anlehnung an die Tradition der antiken Tragödie, und auch den Chor als Erzähler und Kommentator eingebaut. Geschah dies auf die Textvorlage Christa Wolfs hin?
: Das ist ganz eindeutig. Das Libretto sagt über die Rolle des Sprechers ganz klar aus, dass er eine agierende Person und keine reflektierende oder berichtende Person ist. Dass es auch Berichtspassagen gibt, ändert nichts daran, dass es beim Sprecher um eine Figur geht, die gleichberechtigt neben den anderen dramatischen Figuren steht. : Was hat Sie gehindert, die Rolle des Erzählers als Gesangsstimme anzulegen?
: Nichts, aber ich wollte so eine Rolle drin haben. Das war mein Wunsch, und das habe ich Christa Wolf so gesagt. Ich gab ihr auch klassische Oratorienlibretti zum Lesen. Die Rolle fiel dann bei ihr so aus. Im Grunde war die Entscheidung dann zwar, das Sprechen beizubehalten. Aber wie gesagt: die Rolle könnte auch gesungen werden. Es wären einige Retuschen nötig. Aber es stehen dabei auch durchaus Noten in den Stimmen. Es gibt ja diese Ossiavariante: entweder sprechen oder singen. : Zu den Strukturelementen des Oratoriums gehören ja auch Arien, Duette, ebenso wie die Choräle oder die Fugen jeweils zum Schluss der Teile. All das findet aber in diesen oratorischen Szenen nicht statt...
: Nein, nur ganz am Schluss tritt der Chor aus seiner agierenden Rolle heraus und zitiert eine gewisse Choralintonation und wird damit zum reflektierenden Chor. Bis dahin ist er wirklich in die Handlung einbezogen, als agierende plurale Person. : Ich sprach mit Christa Wolf über das Problem, dass die Komplexität der Darstellung der Medea, wie sie in ihrem Roman möglich war, in dieser dramatischen Form, die Ihrer Komposition zugrunde liegt, nicht zu leisten wäre. Insofern ging es in unserem Gespräch auch um die „Aufgabe“ der Musik kompensierend zu wirken, beziehungsweise neue Wirkungen hervorzubringen.
: Christa Wolf hat dieses Libretto als ein Stück Literatur geschrieben. Was mir sehr recht war. Ich brauche Dinge, an denen ich mich reiben kann. Ich habe es gern, wenn vom Autoren keine Vorstellungen kommen, die ich aus verschiedenen Gründen vielleicht nicht umsetzen könnte. Ich fand das auch von ihr sehr nobel, dass sie nicht in dieser Richtung gedacht hat, sondern mir bei der Komposition freie Hand ließ. : Lassen Sie uns über den Kompositionsprozess sprechen. „Medea in Korinth“ ist nicht Ihre erste Arbeit mit Text. In diesem Falle lag das Libretto vor. „Am Text entlang komponieren“ – könnte man den Arbeitsprozess so beschreiben?
: Das kann man so sagen, ja. Ich habe das Stück, nach dem das Libretto von Christa Wolf verabschiedet worden war, in einem Zug skizziert, in ganz kurzer Zeit. Meine Absicht war es, ganz schnell zu komponieren, um das Stück von daher kennen zu lernen. Von diesen Skizzen ist bei der Ausarbeitung wenig übrig geblieben. Aber wichtig war mir zunächst, ein bestimmtes Klima für das Stück herzustellen. Dabei sind dann auch die Entscheidungen über die Besetzung des Orchesters, die Stimmgattungen, die Klangfarbe des Orchesters gefallen. Ich habe mich zum Beispiel dafür entschieden, die hohen Streicher wegzulassen. Solche Dinge sind bereits im Laufe der ersten Arbeitsphase festgelegt worden. : Nach welchen Überlegungen haben Sie die Instrumentierung vorgenommen?
: Einerseits wollte ich kein „antikes“ Orchester auf die Bühne bringen, auf der anderen Seite aber auch kein klassisches oder romantisches. Deswegen zum Beispiel gibt es eine starke Betonung von Oboen und Doppelrohrblattinstrumenten, Flöten – das ist durchaus ein bisschen zitathaft angelegt, so in Richtung griechische Vasenmalerei, auch spielen Harfe und Schlagwerk eine große Rolle. Die tiefen Streicher brauche ich einfach, um die Tiefenfülle zu bekommen und die Blechbläser sind, ganz traditionell, der Sphäre der Macht zugeordnet. Generell sind die Partien sehr sparsam instrumentiert. Mir kam es auf eine hohe Wortverständlichkeit an. Medea ist eine Altstimme. Für ihre Begleitung ist die Harfe besonders wichtig, wie auch die etwas gedeckten Instrumente: die Bassflöte oder das Englischhorn. Der Text ist ja sehr expressiv, was zu einem emotionalen Kompositionsstil geführt hat. Ich lasse die Sänger mit sehr viel espressivo singen und ich scheue mich auch nicht davor, die Gesangsstimmen wirklich cantabile zu führen. Das ist eine bewusste Aufnahme von Gesangskultur, die mir in manchen Stücken fehlt, wo mir die Gesangspartien zu deklamatorisch sind. Ich wollte hier ganz bewusst die melodische Linie haben. Die Frage ist natürlich, wie das Publikum das auffasst. : Dachten Sie bei der Komposition der Partien an bestimmte Interpreten, auf die Sie die Partien „zugeschnitten“ haben?
: Nein, ich habe mir zwar einen Stimmcharakter vorgestellt, aber keine bestimmten Sänger. Die Interpreten haben wir erst danach gesucht. Die Medea wird von Anette Markert gesungen und ich bin hoch beglückt, wie sie das angeht: genauso, wie ich es mir vorstellte. : Ihre Orchesterbesetzung sieht sehr vielfältige Schlag- und Perkussionsinstrumente vor. Das erscheint auf den ersten Blick als archaischer und zugleich spartanischer Ausdruck. Kann man dies als einen Hinweis auf die antiken Traditionen des Stoffes verstehen
: Das kann man so sehen. Ich habe auch ein Modell entwickelt, das sehr oft angespielt wird. Es ist ein thematischer Komplex, ein Gebilde aus Pentatonik und Chromatik, das oft im Zusammenhang mit Medea auftaucht und auf die ältere Schicht hinweist, die im Medea-Mythos vorhanden ist. : Im „Medea“-Oratorium findet man ja die Tradition des antiken Chores bewusst aufgenommen. Die Texte des Chores sind in einer Diktion, die sie für eine gesprochene Wiedergabe geradezu prädestiniert...
: Ich habe mich dafür entschieden, bestimmte Stellen tatsächlich sprechen zu lassen, wie das bei den antiken Chören auch gebräuchlich war. Mir ging es dabei um eine Erweiterung des Klangspektrums des Chores. Zum Teil wird ja die Sprache auch phonetisch behandelt, abweichend also von der klassischen Chorbehandlung, indem Konsonanten oft besonders hervorgehoben werden. : Wir reden hier von einer Medea, die von ihren „Vorgängerinnen“ auf der Sprechbühne und in der Oper sehr verschieden ist. Hat Sie das in der Konzeption Ihrer Arbeit beeinflusst?
: Das Stück ist voller aktueller Bezüge, und doch sind keine Modernismen darin. Die Geschichte ist so klar strukturiert, es kommt so deutlich zum Ausdruck, dass Konflikte behandelt werden, die, leider, muss man sagen, menschheitsimmanent sind. Seit es Gesellschaften gibt, gibt es diese Konflikte in den Gesellschaften. Das wird im Libretto sehr deutlich. Es war gerade die Deutung, die Christa Wolf gefunden hat, für mich so interessant. „Medea“ ist so oft komponiert und getextet worden, dass die neue Version etwas freilegt, das neue Auseinandersetzungen provoziert. : Sie haben bereits in den unterschiedlichsten Formen gearbeitet: Oper, Kammermusik, Orchesterwerk, elektronische Musik, Solo-Literatur. Abgesehen davon, dass „Medea in Korinth“ Ihre jüngste Komposition ist –diese Werkform ist auch neu für Sie. Welche Rolle spielt sie für Sie in Ihrem Oeuvre?
: Wir hatten schon über Nähe dieses Stückes zur Oper gesprochen. Es baut ja sehr stark auf dem Chor auf. Ich will nicht von einer Choroper reden – dazu sind die anderen Partien auch zu gewichtig, aber der Chor als agierendes Element hat eine ganz wichtige Funktion. Insofern ist das für meine Opern schon auch ganz neuartig. : Der Komponist sieht sich heutzutage mit den Rezeptionsgewohnheiten eines Publikums konfrontiert, das geradezu bombardiert wird von einer Fülle unterschiedlichster optischer und akustischer Einflüsse, wie sie noch vor wenigen Jahren gar nicht vorstellbar waren. Wie schwer ist es für Sie als Komponist, sich gegen die so gewachsenen Rezeptionsgewohnheiten zu behaupten, dagegen anzugehen?
: Die Neue Musik hat sich sehr stark differenziert – sie reicht von Noise-Art bis zu relativ klassischen Formen. Und mit ihr hat sich auch das Publikum differenziert. Man muß wissen, für welches Publikum man schreibt. Das ist etwas, das ich bei Hanns Eisler gelernt habe: Musik in dieser Hinsicht funktional zu sehen, komponiert zu einem bestimmten Zweck, mit einer bestimmten Funktion. So richte ich auch meinen Kompositionsprozess aus. Das bedeutet nicht, dass ich von Stück zu Stück meinen Stil ändere. Aber es gibt Vorgehensweisen, mit denen man diese Funktionen betonen kann. : Ein Blick auf die Spielpläne der Konzerthäuser zeigt das Missverhältnis von klassischer und zeitgenössischer Musik. Besteht nicht die Gefahr, dass der Konzertbesucher von morgen, (eigentlich schon von heute) es verlernt, diese Musik zu hören, sich mit ihr auseinandersetzen zu können?
: Ja, die neue Musik wird hauptsächlich in der Off-Szene angeboten. Aber ich habe als Komponist gar keine andere Wahl als das zu machen, was ich für richtig halte. Ich kann nicht unter einen bestimmten Anspruch gehen, das wäre Selbstverleugnung und eine Verleugnung des ästhetischen Anspruchs von Kunst. Das wäre falsch, so würde man eine After-Kunst produzieren. Ich sehe natürlich die Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. : Wie kann man Ihrer Meinung nach den Konzertbesucher motivieren, sich auf zeitgenössische Musik einzulassen, sich dafür zu interessieren?
: Ich kann als Komponist nicht mehr tun, als meine Musik so verantwortungsvoll wie möglich zu komponieren. Alles andere ist eine Sache der Vermittlung und der Medien. Das ist in dieser Medienlandschaft natürlich schwierig, weil hier „Event-Making“ und das Laute, Auffällige, die Spaß-Kultur im Vordergrund steht. : Mutlos machen Sie diese Schwierigkeiten aber nicht?
: Nein, das kann ich nicht sagen. Wissen Sie, wenn man arbeitet, überwiegen ganz andere Dinge: die Konzentration, die Lust am Komponieren – da kommt viel zusammen. Natürlich denkt man auch ans Publikum, aber man stellt es sich als eines mit den eigenen Ohren vor. Eine andere Möglichkeit hat man gar nicht.
Auswahl einiger Werke
• „Das Land Bum-Bum“, Oper 1975
• „Schwarze Vögel“, Ballett 1978
• „Antigone oder die Stadt“, Oper 1989
• „Landschaft mit steigender Flut“, Orchester 1991
• „Schrittweise Auflösung harmonischer Verhältnisse“, Kammerensemble 1994
• „Gesang-Gegengesang-Abgesang“, Orchester 1996
• „Geschlagene Zeit“, Konzert für sechs Schlagzeuger und Orchester 1997
• „Nänie für Johannes Bobrowski“, Orgelkonzert mit Orchester 1998;
• „Der Maschinenmensch“, Kammeroper 199
• „SaxophonMachine“, Konzert für Saxophon und Orchester 2000
• „Godot kommt doch, geht aber wieder“, Ensemble 2000
• „Die blühenden Landschaften“, radiophone Komposition 200 1
• „Aufgrund meiner Verehrung für Domenico Scarlatti“, Klavier 2001