Kaija Saariaho, 1952 in Helsinki geboren und 2023 in Paris verstorben, hat sich mit zunehmendem Alter als Opernkomponistin auf europäischen Bühnen durchgesetzt. Da wundert es schon ein wenig, dass die deutsche Erstaufführung ihrer 2010 in Lyon uraufgeführten Oper „Emilie“ 14 Jahre auf sich warten ließ. Das Staatstheater Mainz hat beherzt die Chance genutzt; treibende Kraft war dabei GMD Hermann Bäumer mit seiner Vorliebe für die Musik des nördlichen Europa.
Musikalisch befreit, in der Szene gefangen – Die deutsche Erstaufführung von Kaija Saariahos „Emilie“ am Staatstheater Mainz
Ungewöhnlich ist bei „Emilie“ sowohl das Sujet als auch die Anlage als Monodrama für eine einzelne Sängerin. Diese verkörpert die (in naturwissenschaftlichen Fachkreisen durchaus bekannte) französische Mathematikerin, Physikerin und Philosophin Émilie du Châtelet (1706–1749). Weitsichtig gefördert durch ihren Vater, einen französischen Diplomaten am Hof von Versailles, erhielt du Châtelet eine umfassende klassische Bildung. Sie beherrschte mehrere Fremdsprachen und auch das Klavierspiel und entwickelte schon früh eine Leidenschaft für die Mathematik. Mit 18 Jahren heiratete sie standesgemäß den Marquis du Châtelet, bekam drei Kinder von ihm und ging danach Affären mit mehreren prominenten Männern ein, von denen die Beziehung zu dem Schriftsteller und Philosophen François-Marie Arouet, genannt Voltaire, die längste und wichtigste war. Voltaire lebte jahrelang auf ihrem Schloss Cirey, wo beide physikalische Experimente durchführten und philosophische Ideen austauschten. Ohne Émilie wären Voltaires Sachbücher über die Newtonsche Physik und Metaphysik nicht zustande gekommen; ihre 1739 erschienene Abhandlung über die Natur des Feuers war die erste Publikation einer Frau durch die Pariser Akademie der Wissenschaften; und ihre kommentierte Übersetzung von Isaac Newtons „Principia“, die Voltaire zehn Jahre nach ihrem Tod herausbrachte, gilt bis heute als Standardwerk. Privat hatte Émilie du Châtelet eine Leidenschaft für modische und extravagante Kleidung, für Juwelen und für das Glücksspiel. 1748 verliebte sie sich in den 10 Jahre jüngeren Offizier, Höfling und Dichter Jean-François de Saint-Lambert, von dem sie schwanger wurde. Wenige Tage nach Geburt einer Tochter starb sie am 10.9.1749 am Kindbettfieber.
Man ahnt: Weniger der an nüchterne Fakten orientierte Zugang zur Wissenschaft als Émilies schillernde Persönlichkeit und ihre Leidenschaftlichkeit machen sie zur operngeeigneten Titelfigur. Zudem dürfte die Art, wie sie sich in einer Männerdomäne zu behaupten wusste, Kaija Saariaho fasziniert haben; immerhin bekam auch sie anfangs oft genug das Klischee zu hören, Frauen könnten nicht komponieren, und sie werde ohnehin heiraten. Den primären Anstoß für das Werk gab allerdings Saariahos Begegnung mit Persönlichkeit und Stimme der finnischen Opernsängerin Karila Mattila, die dann auch 2010 die Uraufführung bestritt. Erst aus der Idee eines Solostückes für Mattila ergab sich die Wahl des Stoffes. In Mainz hat man die Titelrolle auf vier Personen aufgeteilt; die Genehmigung dazu erhielt GMD Bäumer noch zu Lebzeiten Saariahos. So teilen sich nun die Sopranistinnen Julietta Aleksanyan, Alexandra Samouilidou und Maren Schwier aus dem Mainzer Opernensemble die anspruchsvolle Rolle; dazu kommt als Gast noch die Tänzerin Bettina Fritsche. Amin Maalouf, Librettist der Oper, hat in seinem Szenario Émilies letzte Lebensphase während ihrer Schwangerschaft symbolisch in einer Nacht zusammengezogen. Daraus sind neun Szenen entstanden, die auf Deutsch „Vorahnungen“, „Grab“, „Voltaire“, „Strahlen“, „Begegnung“ (d. h. diejenige mit Saint-Lambert), „Kind“, „Prinzipien“ (d. h. Newtons gleichnamiges Buch) und „Gegen das Vergessen“ lauten.
Szenisch ist das Werk so handlungsarm, dass man von einer Solokantate sprechen könnte. Interessanterweise gibt es aber einige Stellen, an denen die Titelheldin in einen imaginären Dialog mit ihrem Vater oder mit ihrem Geliebten Voltaire tritt. Hier kommt ein Stimmverzerrer zum Einsatz, der die live gesungene Sopranstimme männlich wirken lässt. Regisseur und Bühnenbildner Immo Karaman verzichtet auf die Option, diese oder andere Personen stumm auftreten zu lassen. Er begnügt sich mit den vier Solo-Darstellerinnen und verteilt sie auf vier gleichförmig angelegte Bühnenräume, die die Bühnen symmetrisch gliedern, jeweils mit einem Schreibtisch, einem Stuhl und einem Kleiderständer ausgestattet sind und sich nach hinten perspektivisch verengen. Auf die schwarzen Wände dieser vier Bühnensegmente werden immer wieder naturwissenschaftliche Formeln und kurz vor Schluss auch einmal Kinderzeichnungen projiziert. Durch Schlitze zwischen den dunklen Segmenten dringt helles, manchmal gleißendes Licht, das in den Zuschauerraum hinein blendet. So fällt es nicht leicht, über 75 Minuten hinweg blinzelnd das stark reduzierte Bühnengeschehen zu verfolgen. Alle vier „Emilien“ tragen rokokotypische Kleidung und bewegen sich zwischen Stuhl und Schreibtisch; manchmal legen sie einen Teil der Kleidung ab. Teils agieren sie synchron, teils unterschiedlich, manchmal sind alle vier Bühnensegmente erleuchtet, manchmal liegen ein bis drei von ihnen auch im Dunkeln. Ob die Unterschiede und Wechsel zwischen den Darstellerinnen und in der Beleuchtung eher zufällig sind oder sich mit einer Interpretationsabsicht verbinden, ist schwer zu sagen, da sich die parallel laufende Übertitelung des originalen Textes (französisch mit englischen Einsprengseln) an der Seite wegen des helleren Lichts von der Bühne nur sehr mühsam verfolgen lässt. Und während die historische Émilie du Châtelet zeit- und geschlechtertypische Grenzen sprengte, wirkt sie auf der Mainzer Bühne gleich vierfach wie in einen Käfig eingesperrt.
Kaija Saariaho versteht sich generell auf die Kunst der zarten und raffinierten Übergänge. Elektronik verschmilzt unmerklich mit Live-Klängen, sorgfältig gewählte Orchesterfarben verbinden sich subtil mit der Singstimme, Töne und Geräusche mischen sich in den unterschiedlichsten Verhältnissen. Auch in dieser Mono-Oper legt sich die Musik wie ein feiner, sich beständig verändernder Klangteppich unter den Text. Es entsteht eine lyrische Grundstimmung mit vorsichtig dosierten dramatischen Momenten, die zugleich eine beachtliche Beharrlichkeit ausstrahlt. Dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz bei der Realisation der delikaten Partitur zuzuhören, ist ein wirkliches Vergnügen, und GMD Bäumer hat die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne sicher in der Hand. Auffällig ist die Kombination der Klangfarben von Cembalo und Marimbaphon; ersteres gibt der Titelfigur eine historische Note, das zweite holt sie sozusagen in die Gegenwart. Doch wie die Musik im Einzelnen auf die textlich-szenische Situation reagiert und uns die Person der Émilie du Châtelet näherbringt, das kann oder will diese Inszenierung bedauerlicherweise nicht zeigen.
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