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Zimmermanns "Die Soldaten" in Wiesbaden. Foto: Karl und Monika Forster
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Musikalische Grundfarben und die Rückkehr der Gespenster

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Die Wiesbadener Maifestspiele eröffnen mit Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“. Andreas Hauff findet Zimmermanns Oper als „tatsächlich in die Jahre gekommen“, aber er ist keineswegs enttäuscht.

Weit mehr als andere deutsche Bühnen ist das Staatstheater Wiesbaden ein Hort der Tradition. Nicht nur der teils neobarocke, teils neoklassische Prachtbau im Kurviertel, sondern auch die Existenz der Maifestspiele gehen auf die Initiative Kaiser Wilhelms II. zurück, der Wiesbaden zu seiner alljährlichen Mai-Residenz erkor. Traditionsverhaftet hat sich auch immer wieder das Publikum gezeigt, wenn – wie noch vor einigen Jahren – Abonnenten türkenknallend eine dezent stilisierte Inszenierung von Alban Bergs „Wozzeck“ verließen. Hier Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ zur Eröffnung der diesjährigen Maifestspiele zu zeigen, ist mutig. Es ist aber auch überfällig, denn die letzte Produktion im bühnenreichen Rhein-Main-Gebiet war 1981 an der Oper Frankfurt – unter Michael Gielen, der 1965 schon die Kölner Uraufführung dirigiert hatte.

Man darf sich allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass das einst als unauführbar geltende Monumentalwerk binnen eines halben Jahrhunderts tatsächlich „in die Jahre gekommen ist“. Die dekonstruktivistische Theaterpraxis hat Zimmermanns Vorstellung von der „Kugelgestalt der Zeit“, in der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit austauschbar werden, zum Inszenierungsklischee ausgewalzt. Die Einspielung von Klängen, Geräuschen, Videos ist Bühnenalltag, und auch die pluralistische Kombination von serieller Technik und Collage in der Partitur hat mit der Postmoderne ihren Stachel verloren. Und der Eindruck, die Partien der Sänger seien kompositorisch nicht viel mehr als „Zahnräder in der Orchester-Maschinerie“ (so formuliert von Alex Ross im „New Yorker“ anlässlich der Ruhr-Triennale-Inszenierung von 2006), ist auch in Wiesbaden nicht von der Hand zu weisen. Einzig Zimmermanns Vision eines neuen kugelförmigen Theaters als „Großraumgefüge, vielfältigt moduliert“, mit gestaffelten Spielflächen, Kipp- und Dreh- und Liegesitzen für das Publikum bleibt als unerfüllte Forderung stehen. Sie ist auch im Wiesbadener Großen Haus nicht erfüllbar.

Was der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov (Jg. 1983) unter diesen Umständen aus Zimmermanns Anti-Kriegs-Oper macht, ist mehr als achtbar. Nicht nur widersteht er der verbreiteten Versuchung, die Schockwirkung über die Inflation szenischer Greueltaten durchzusetzen. Er findet auch eine individuelle, auf das Wiesbadner Theater, seinen Bau und seine Geschichte zugeschnittene Lesart. Während das Publikum auf der Bühne und in den Rängen sitzt, werden das Parkett und die Logen im 1. Rang zum Spielort. Über einen Umgang, einen Parkplatz und einen roten Holzsteg (anstatt des üblichen Teppichs) wird der Großteil der Zuschauer ins Bühnenhaus geleitet. Leider hat die ansteigende Bestuhlung der Bühne ihre Tücken. Obwohl auf je zwei Monitoren seitlich die Ereignisse in den beiden Seitenlogen und der gesungene Text angezeigt werden, sind Eingangs- und Schlusszene je nach Platz nicht zu erkennen und auch die Text-Bildschirme verdeckt.

Klar wird jedenfalls soviel: „Die Soldaten“ beginnen im Theater mit der Statisterie als Publikum im Parkett. In der Staatsloge sitzen hohe Herrschaften, in der einen Seitenloge Vater Wesener (Pavel Daniluk) mit seinen Töchtern Marie (Gloria Rehm) und Charlotte (Celeste Haworth), in der anderen die Offiziere, allen voran Baron Desportes (Martin Koch), der sich in Marie verguckt. Den unglücklichen Stolzius (Holger Falk), Maries angehenden Verlobten, auszumachen, fällt erst einmal schwer, und auch die moralischen Diskussionen des Feldpredigers Eisenhardt (Joachim Goltz) mit dem Hauptmann Pirzel (Eberhard Francesco Lorenz) gehen später im Trubel unter. Aber schon Zimmermann hat ja in seiner Vorlage, Jakob Lenz‘ Schauspiel „Die Soldaten“, weniger die Individuen und die Sozialkritik gesehen als die Maschinerie des Krieges, die Marie und Stolzius zermalmt. Sichtbar wird das hier spätestens, als die Türen links und rechts ins Foyer sich öffnen und mit Pulverdampf und Gulaschkanone ein Regiment Uniformierter Einzug hält.

Die über die Zuschauerreihen gelegten Bretter zeigen nicht nur die Profanierung des Kunsttempels zum Militärstützpunkt, sondern sorgen auch für bessere Sichtbarkeit. Bühnentechniker ziehen derweil an Seilen ein großes Luftschiff über die Bühne in den Zwischenraum. Kurz vor der Militär-Invasion hat schon einer der Zuschauer-Darsteller im Parkett die hohen Herrschaften im 1. Rang unter Beschuss genommen. Der Zuschauer assoziiert den Ersten Weltkrieg und seine an Attentaten und Anschlagsversuchen nicht eben arme Vorgeschichte. Regisseur Barkhatov und sein weißrussischer Bühnenbildner Zinovy Margolin verbinden mit diesen Bildern persönlich noch eine andere Geschichte: Den Sturm tschetschenischer Terroristen auf das Moskauer Dubrowka-Theater während einer Aufführung des Musicals „Nord-Ost“ im Jahr 2002; Margolin war als Bühnenbildner an dieser Produktion beteiligt. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für beide ist die Stationierung deutscher Soldaten im Opernhaus von Minsk während des Zweiten Weltkriegs. In der Wiesbadner Aufführung entdecken nun die Soldaten den Theaterfundus und treiben mit Perücken, Requisiten und Ballettröckchen ihre mehr oder weniger groben Scherze.

Im nächsten Schritt wird das Theater zum Lazarett, Desportes selbst hat eine leichte Armverwundung. Marie, immer adrett und fast immer in Begleitung ihrer genau so adretten Schwester, schlüpft mit in sein Krankenbett. Den Hauptmann Mary, ihre nächste intime Bekanntschaft, trifft Mary bereits in einer Leichenhalle. Dann leert sich das Theater; es kommt unter Beschuss und wird teilweise zerstört. Letzteres zeigt die Inszenierung per Außenansicht in altertümlich wirkenden Schwarz-Weiß-Bildern auf dem Bildschirm. Wie geschickt der Video-Künstler Gérard Naziri gearbeitet hat, sieht man auf den zweiten Blick. Die Bombenschäden entstammen keiner alten Aufnahme, sondern sind fein säuberlich in eine aktuelle Abbildung eingearbeitet. Man glaubt zu verstehen: Nicht nur um die Geschichte vom Wilhelminischen Deutschland bis ins Nazi-Regime geht es dem Regie-Team, sondern auch um die aktuelle Lage, die Rückkehr des Kriegs auf die europäische Agenda, die neuerliche Zerstörung von Kultur. Aber dann heißt es versöhnlich per Projektion aufs Luftschiff: „Das Theater ist wieder ein Theater“. Der Flugkörper wird auf die Hinterbühne zurückgeleitet, das Parkett füllt sich von neuem, und die hohen Herrschaften nehmen wieder in der Staatsloge Platz: Es sind die Gräfin de la Roche (Sharon Kempton), ihr Sohn (Gustavo Quaresma) und ein älterer hoher Bedienter (Wolfgang Vater). Der junge Graf hat sich in Marie verliebt, die Mutter ist dagegen, und im Laufe der Diskussion macht sich der Bediente über die junge Frau her. Und während die Gräfin ihr noch das Angebot einer Gesellschafterin-Stelle macht, überfallen modern Uniformierte die Loge, misshandeln die Insassen und schaffen sie weg – und mit ihnen den letzten Rest von alter Hoftheater-Nostalgie.

GMD Zsolt Hamar hat mit Benjamin Schneider als Subdirigent das vielfältige musikalische Geschehen gut im Griff. Bei aller Sorgfalt im Detail bleiben außer den teilweise sehr exaltierten, aber individuell weniger geprägten Vokalpartien vor allem drei instrumentale Grundfarben im Ohr: Zum einen massive, erdrückende Orgelklänge, die der an die Herkunft des Instrumentes aus der römischen Arena erinnern, dann durch Schlagwerk erweiterte Pauken und Trompeten in ihrer traditionellen militärischen Bedeutung, schließlich Streicher- und Holzbläserpartien von trügerischer, schmeichelnder Freundlichkeit. Szenisch bleibt vom letzten Akt der Oper weniger das Chaos der Simultanszene im Gedächtnis als die theatralisch in der Staatsloge vorgeführte Vergiftungsszene, die prompt vom (Bühnen-)Publikum akklamiert wird. Beklemmung erzeugt auch nicht die letzte Begegnung des alten Wesener mit seiner heruntergekommenen Tochter Marie, die tief unten im Parlett kaum zu erkennen ist, sondern die dröhnende Schluss-Szene, in der, spiegelbildlich zum wirklichen Publikum auf der Bühne, alle noch verfügbaren Protagonisten im Parkett den stampfenden Wiedereinzug einer nur akustisch wahrnehmbaren Armee aufrecht, einträchtig und begeistert beklatschen. Es braucht für den Schrecken gar nicht den von Zimmermann gemeinten Atomkrieg, es reicht schon die Rückkehr der Gespenster von gestern. Europa hat nicht dazugelernt.

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