Erst 1949/50, also parallel zur Gründung der DDR, erfolgte der Wechsel zur Veranstaltung der bedeutenden Leipziger Karfreitagskonzerte an das Gewandhaus und demzufolge zur zwangsläufigen Veranstaltungsallianz von Thomanerchor und Gewandhausorchester. Insofern erklangen die beiden Jubiläumskonzerte am 28. und 29. März zum 300. Jahrestag der Uraufführung von Johann Sebastians Bachs Johannespassion BWV 245 mit einer ganzen Reihe von synergetischen Kompromissen und prominenter Besetzung.
Nach 300 Jahren: Johann Sebastian Bachs Johannespassion am Uraufführungsort Leipzig
Angefangen beim Jahrestag: Aufgrund der wechselnden Position des Karfreitags im Kalender fanden die Jubiläumskonzerte 2024 über eine Woche vor dem Stichdatum statt – der Karfreitag des Jahres 1724 fiel auf den 7. April. Johann Sebastian Bach war seit seinem Amtsantritt als Thomaskantor im Jahr 1723 für die Musikgestaltung in der Thomaskirche und in der Nikolaikirche zuständig. Damals gab es noch kein Gewandhausorchester und dafür Leipziger Stadtpfeifer, die regelmäßig zur Gestaltung der Kirchenmusik herangezogen wurden. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierten sich in Leipzig die an wechselnden Orten zur Tradition werdenden Karfreitagskonzerte. Der Wechsel von Bachs Matthäuspassion und Johannespassion als alleinigen Werken zu diesem Anlass und deren Vereinnahmung in die Gewandhaus-Reihe Grosses Concert erfolgte erst 1961. So weit, so gut bis zum Antritt des amtierenden Thomaskantors Andreas Reize am 18. Dezember 2020.
Denn der Schweizer Alte-Musik-Experte mit Affinität zur Barockoper machte zurecht darauf aufmerksam, dass die Kenntnis historisch informierten Musizierens am Exzellenz-Klangkörper der Musikstadt Leipzig und dem personalstärksten Orchester Deutschlands weitgehend effekt- wie effizienzlos vorbeigezogen waren. Der Erfahrungszuwachs aus den Expertisen von Forschung und Originalklangensembles fand beim Gewandhausorchester bis dahin nur geringen Widerhall. Das sollte anders werden. Wenn Thomaskantor Reize für Werke seines Amtsvorgängers Bach am Pult des Gewandhausorchesters steht, herrscht seit 2020 Virenalarm betreffend barocker Spieltechniken und gestischer Diversitätenvielfalt, gegen die man sich nicht unbedingt immunisieren wollte. Natürlich war es eine naheliegende Entscheidung, zum großen Ereignis in der am Gründonnerstag nicht vollbesetzten Thomaskirche und am Folgetag im Uraufführungsort Nikolaikirche die noch immer wenig bekannte Erstfassung der Johannespassion aufzuführen – nicht eine der von Bach stark veränderten Fassungen der Jahre 1725, 1728/32 und 1749.
Kurz vor den Jubiläumskonzerten erschien beim Label Rondeau eine Einspielung der Johannespassion-Fassung von 1724 mit 26 Mitgliedern des Thomanerchors und Thomanern in den Solopartien. Andreas Reize begann hier eine Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik, während in seiner Einspielung von Bachs h-Moll-Messe mit dem Thomanerchor noch das Gewandhausorchester spielte. Mit der Entscheidung für die rekonstruierte Urform der Johannespassion und den sich daraus ergebenden Fragestellungen folgte Reizes Lesart anderen Einspielungen der nicht vollständig erhaltenen Erstfassung Bachs – zum Beispiel unter Jos van Veldhoven und Marc Minkowski. Trotzdem sind die beiden Leipziger Jubiläumskonzerte eher Aufbruch als Resümee.
Die Innovationen für Leipzig bestehen im Instrumentalen und im Vokalen. Gewiss erklingen die Knaben- und Männerstimmen des Thomanerchors von der Orgelempore mit Klarheit auch aus den tieferen Lagen. Von den in der Besetzung namentlich gelisteten Instrumentalsoli hört man kantable Individualität statt Mischklang-Verschmelzungen und damit ein in diesem Raum ungewöhnlich dynamisches Klangbild: mehr Skizzenstriche als flächige Fülle. Aber der eigentliche Erkenntnisgewinn liegt in den Rezitativen. Mit Besinnung auf vokale Verzierungsgepflogenheiten des frühen 18. Jahrhunderts motiviert Reize vor allem den Tenor Daniel Johannsen in den langen Rezitativen des Evangelisten zu einem aufregend eloquenten, streitbaren und empathischen Erzählen. Der Kontrast zwischen Johannsen und dem Bariton Benjamin Appl als hell timbrierten, in sich ruhendem Christus gerät scharf und deshalb packend. Instrumentalpolyphonie und Chöre verbinden sich zu einem beim Gewandhausorchester ungewohnt rauem Gemisch, das die Samtkuppel nicht ganz entbehren will. Das Passionsgeschehen von der Gefangennahme Jesu bis zur Grablegung vollzieht sich mit dramatischer Spannung.
Fast eigenwillig wirkt die Zusammenstellung der Solisten. Neben Elisabeths Breuers fast groß flutendem lyrischen Sopran wirkt Countertenor-Star Jakub Józef OrliĆski weiß und von fast zu distinguierter Noblesse. Tomáš Králs heller Bass ist mit gewinnendem Legato und damit einer komplementären Vokalkontur neben Appl eine weitere starke Bereicherung des Ensembles. Diese keineswegs homogene Besetzung strahlt positiv bewirkt eine überaus intensive Darbietung. Man hört äußerst deutlich das Suchen nach einem neuen Standpunkt zwischen den eigenen turmhohen Traditionen und dem in der Thomaskirche freigesetzten Lernhunger auf stilkundige Herausforderungen.
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