Wegen Krankheit im Solopersonal fiel der für den 14. Dezember 1893 vorgesehene Premierentermin am Münchner Hof- & Nationaltheater aus. Also gelangte Engelbert Humperdincks bis heute international beliebtes Erfolgsmusikdrama „Hänsel und Gretel“ am 23. Dezember 1892 zu Weimarer Uraufführungsehren. Weimars Großherzoglicher Kapellmeister Richard Strauss rühmte es mehrfach als „entzückend“. Jetzt gönnte sich Generalintendant Hasko Weber vor seinem Wechsel nach Cottbus zur Spielzeit 2025/26 den neben „Lohengrin“ größten Weimarer Uraufführungserfolg als seine letzte Musiktheater-Inszenierung am DNT. Es wurde eine sensible, liebevolle, in einigen Aspekten sogar überraschende Aufführung. Musikalischer Glanz inbegriffen.
Nebel, dunkle Engel, Ovationen: Humperdincks „Hänsel und Gretel“ am Uraufführungsort Weimar
Mit einem besonderen Ereignis vorab: Christoph Meixner, Leiter des Thüringischen Landesmusikarchivs, präsentierte die für 4.500 Euro frisch restaurierte Weimarer Partitur von „Hänsel und Gretel“, welche unter vielen Dirigentenhänden dort ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die für Traditionspflege und Orchesterprofil aufschlussreichen Eintragungen wurden erhalten.
Am Pult vor gut gefülltem Haus stand Andreas Wolf. Er musste die samten, strahlend und souverän spielende Staatskapelle Weimar für Engelbert Humperdincks sonnige Wald- und Märchenoper nur hin und wieder dämpfen. Vor allem aus den Streichergruppen gab es wunderschöne Dehnungsmomente. Schwelgende Holzbläser und singendes Blech reichten bis in die auftrumpfenden Höhepunkte der Engelspantomime und des Knusperwalzers, die in den Kinder- und Hausmärchen Nr. 15 der Brüder Grimm so nicht stehen. Das ging auch, weil das DNT für die doch umfangreichen Partien des Kinderpaars Stimmen aufbietet, welche den üppigen Orchestermassen bestens gewachsen sind. Es gibt für alle Partien zwei Besetzungen.
In der Premiere trumpfte Natalie Image als Gretel mit jugendlich-dramatischen Energien, Sayaka Shigeshima konterte als Hänsel mit großen „Rosenkavalier“-Tönen. Kraft und Strahl gab es sogar in den Minipartien von Franziska Löber (Sandmännchen) und Karine Minasyan (Taumännchen).
Die von Dirigat und Regie mit Aufmerksamkeit geleiteten Eltern waren ebenbürtig: Uwe Schenker-Primus kommt als Vater ohne Griff zum im Textbuch von Humperdincks Schwester Adelheid Wette geforderten Kümmel-Leiblikör aus. Er und Sarah Mehnert, die Mutter mit sympathischer Strenge, führen ein beneidenswert glückliches Eheleben. Erwerbssorgen bleiben Bagatellsache. Hasko Weber traut dem Werk ohne Flucht in Märchen-Biedermeier und mit dem wohldosiertem Blinzeln seines Ausstatters Thilo Reuther zur medialen Gegenwart. Pink und Bambus sind das Farbenspiel für die Kostüme der Eltern und Kinder. Die redliche Kleinfamilie lebt in einer Hütte aus dicken Baumstämmen ohne Laptop und Smartphone. Das Lebkuchenhaus ragt mit Oktoberfestgröße bis zur Portaldecke. Im Wald nebelt es lang und dick, an den Bäumen leuchten Neonkabel.
Nicht nur wegen des kitschfreien Arrangements sind die durch Wald und Wind wandelnden 14 Mädchenengel schlicht und poetisch. Beim Kinderchor der schola cantorum weimar (Einstudierung: Cordula Fischer) liegt die Knabenquote – notdürftig kaschiert durch Kostüme – eindeutig unter 10 %. Weber modernisierte diskret. Er erzeugt Konzentration mit Stille, so bei Gretels in eine Pfeffernuss gehauchtem „Mhhh...“ oder beim Abendsegen. Und er erfand zwei „dunkle Engel“ als stumme Zusatz-Hauptfiguren. Manon Andral und Francesc Nello Deakin, ganz in Schwarz, lösen sich beim Gebet der Hörner im Vorspiel aus einer körperlichen Umschlingung, machen sich später wie der Kuckuck an Gretels Erdbeerkörbchen und geistern im Wald, das man auf ganz andere Gedanken kommen könnte.
Packend schließlich das Ziel jeder „Hänsel-und-Gretel“-Vorstellung. Jörn Eichler gibt die Knusperhexe Rosine Leckermaul mit rotem Lippenrand, Brille und lila Anzug als Clone von Vater und Mutter, dabei aber eindeutiger Mann. Fast könnte dieser Hexer leidtun. Er ist wie ein Professor, dem in der ständigen Einsamkeit des Forschens die Sicherungen durchbrannten. Dem Studierendenfutter mit Rosinen und Mandeln spricht er lieber zu als dem Kinderfleisch aus artgerechter Freilandhaltung. So geht also „Hänsel und Gretel“ am Uraufführungsort: Auf die im Jahr vorausgegangene Inszenierung von Christian Sedelmeyer, in welcher das Märchen zum Teil unter den Betonträgern einer Autobahn spielte, zeigt die Neuproduktion fast 101 Jahre nach der Uraufführung Bewusstsein für Abgründe. Diese belasten unsere beliebteste Mehrgenerationen-Weihnachtsoper nicht. – Alles also schön und gut. Es fehlte nur Kulturministerin Claudia Roth, die im Sommer „Hänsel und Gretel“ als Bayreuther Festspielstück empfohlen hatte.
- Der Premierenmitschnitt wird gesendet in Deutschlandfunk Kultur am 07.12.2024 ab 19.05 Uhr und durch MDR Klassik auf allen Kultur- und Klassik-Wellen der ARD am 21.12.2024 ab 20.03 Uhr. (danach 30 Tage in den jeweiligen Mediatheken verfügbar.
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