Alte Musik ist nichts für junge Menschen. So lautet ein beliebtes Vorurteil, und die Publikumsstrukturen – auch die von Klassikfestivals generell – scheinen das immer wieder zu bestätigen. Der neue Leiter der „Tage alter Musik in Herne“, WDR-Redakteur Richard Lorber, möchte dagegen angehen. Zur 29. Ausgabe des Festivals war er angetreten, um die alte Musik mit neuen Impulsen ins 21. Jahrhundert zu führen.
Die „Tage alter Musik in Herne“ unterschieden sich in diesem Jahr am Ende zwar nicht wesentlich von den Festivals der Jahre zuvor; der angekündigte frische Wind präsentierte sich nur als leichte Brise. Immerhin aber waren einige Neuerungen doch in Ansätzen spürbar. Das diesjährige Motto war wieder reich an Facetten. „Vivo o deliro – Lebe ich oder bin ich schon im Wahn?“ lautet ein Zitat aus Georg Friedrich Händels Oper „Ariodante“. „Wahn, Vision und Wirklichkeit“ (so der Untertitel des Mottos) hatte Richard Lorber auf vielfältige Art und Weise in den insgesamt zehn Konzerten untergebracht.
Ludovico Ariosts Epos „Orlando furioso“, das zahllosen Komponisten als Fundus für Opernstoffe gedient hat, diente zur Erprobung einer neuen, multimedialen Präsentationsform alter Musik. Hörspielautorin Margareth Obexer lieferte verbindende Texte für ein Pasticcio aus Werken von Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel und Johann Adolf Hasse, die das Epos von Ariost zur Vorlage haben. Der zeitgenössische Komponist Detlev Glanert steuerte zudem zahme, poetische Lieder für Countertenor und Gitarre bei. Zudem tauchte eine riesige Diskokugel den Saal des Herner Kulturzentrums zu gegebener Zeit in glitzernden Mondschein. Der Abend, in Verbindung mit dem „Wortsender“ WDR 5 konzipiert, konnte jedoch weder musikalisch noch dramaturgisch überzeugen. Das „Orchestra barocca Modo Antiquo“ unter Federico Maria Sardelli spielte ohne Verve, Schauspieler Paul Faßnacht als erzählender Ariost wechselte durchsichtig zwischen schreiendem Pathos und beiläufigem Gemurmel. Die Sängerriege blieb, bis auf die Sopranistin Elisabeth Scholl, farblos.
Dem Wahn und der Wirklichkeit der fanatischen Napoleon-Verehrung des frühen 19. Jahrhunderts war in Herne ein weiteres großes Abendkonzert gewidmet. Ein gesundheitlich angeschlagener, aber dennoch mit größter Energie musizierender Bruno Weil widmete sich der ersten Sinfonie des Napoleon-Protegées Etienne Nicolas Méhul. Weil brachte einiges an musikalischem Gestaltungswillen mit, das zeigte sich auch bei der „Eroica“-Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Die „Cappella Coloniensis“ folgte ihm zwar, das Kölner Traditionsensemble hat man aber auch schon klangschärfer erlebt.
Die beglückenden Erfahrungen in Herne jedoch waren am Ende zahlreicher als die Enttäuschungen. Bejubelt wurde schon der Auftakt des Festivals mit der Gruppe „Los Otros“, die Instrumentalmusik aus Mexiko, der Karibik, Mittelamerika und Spanien präsentierte. Ihr Programm „Aguirre – Gottes Zorn und Lebenslust“ wartete mit einem Galliarden tanzenden Steve Player, dem auf vielen Barockgitarren versierten Gitarristen Lee Santana, der Star-Gambistin Hille Perl und dem Perkussionisten Pedro Estevan auf, der mit seinen Improvisationen der alten Musik eine neue Farbe verlieh. Herausragend auch der Auftritt des vierköpfigen Vokalensembles „La Colombina“. Mit atemberaubender Präzision intonierten die vier Sängerinnen und Sänger Gregorianik und Messkompositionen aus dem spanischen Königspalast, dem „Escorial“. Als musikalischer Höhepunkt der „Tage alter Musik in Herne“ erwies sich jedoch das letzte Konzert mit dem glänzend aufgelegten Ensemble „Ars Antiqua Austria“ unter Gunar Letzbor. Sie nahmen sich der Huldigungsoper „Julo Ascanio, Re d’Alba“ von Johann Joseph Fux an. An der Spitze der exzellenten Interpretenriege: Radu Marian, der einzige Sänger der Gegenwart mit einer natürlichen Sopranstimme.
Das obligate musikwissenschaftliche Symposium des Festivals, das wie immer durch eine Instrumentenausstellung ergänzt wurde, erforschte die vielseitige Nutzung des Cembalos als Generalbass-Instrument. Im angeschlossenen Werkstatt-Konzert präsentierte Musikforscher und Cembalist Siegbert Rampe Musik für Cembali, die eigens für die Interpretation zeitgenössischer Musik angefertigt wurden: Auch dies eine neue Farbe im Herner Festival und eine weitere Brücke in die Gegenwart.
In einem „Kulturpolitischen Forum“, prominent besetzt mit den Dirigenten Reinhard Goebel und Michael Schneider, der Journalistin Eleonore Büning und Eva Coutaz, Produktionsleiterin von „harmonia mundi France“, wurde über das übersättigte Publikum diskutiert und die miserable finanzielle Situation der Instrumentalisten. Auch die Sonderstellung der alten Musik innerhalb der klassischen Musik in der pädagogischen Praxis und auf dem Tonträgermarkt war ein Thema. Obwohl die Grenzen zum traditionellen Musikbetrieb bereits aufgeweicht wurden und sich gegenseitig befruchten, ist das Trennende immer noch groß.
Für die Zukunft der „Tage alter Musik in Herne“ hat sich Richard Lorber vorgenommen, das Festival noch populärer zu gestalten. Für 2005 etwa ist eine Fernsehübertragung geplant, zudem sollen neue Spielstätten erschlossen werden. „Wir möchten mit unseren Sendungen besonders auch die so genannten ‚Neuen Kulturinteressierten‘, ansprechen, also die Menschen, die offen sind für Klassik, aber gleichzeitig auch an neuer Radiokunst interessiert sind, an Jazz, an Weltmusik“, so Lorber. Dass es die „Tage alter Musik in Herne“ in Zukunft jedoch nicht leichter haben werden, ist abzusehen. Vielleicht wird hier das zurzeit herrschende Überangebot an musikalischer Hochkultur im Ruhrgebiet eine Rolle spielen. An die grandiosen Auslastungszahlen des Jahres 2003 jedenfalls – den höchsten in der Geschichte der „Tage alter Musik in Herne“ – konnte man diesmal nicht anknüpfen.