Die „Förderung der aktuellen Musik aller Sparten in ihrer Vielfalt und Komplexität“ hat sich der 2016 gegründete Musikfonds e.V. in Berlin auf die Fahnen geschrieben. Das genannte Spektrum ist breit: neue Musik und zeitgenössische Moderne, experimenteller Jazz und improvisierte Musik, freie Musik und Echtzeitmusik, experimentelle Pop- und Rockmusik, radikale Strömungen von DJing und Dance Music, Audio-Installationen und Klangkunst. Im März 2023 wurde kurzfristig ein Sonderprogramm für den ländlichen Raum ausgeschrieben, damit vom Sommer bis in den Herbst „auch abseits der Kulturmetropolen das Bedürfnis nach ungewohnter, experimenteller und genreübergreifender Musik erfüllt werden kann.“ Die Förderrunde schloss mit einer zugleich als Netzwerktreffen konzipierten Abschlusstagung im Rahmen des Festivals „Zeit für Neue Musik“, das vom 30. November bis zum 3. Dezember 2023 im nordpfälzischen Rockenhausen stattfand.
Neue Musik und „muh[sic]“
Im auffälligen Namen des Sonderprogramms „muh[sic]“, schlägt ein (selbst-)ironisch gemeintes Klischee durch: In eine von einfältigen Bauern und Rindviechern dünn besiedelte Kultursteppe hält nun endlich die Musik Einzug. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Etienne Emard, der für die Musikpflege zuständige Referent im Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration, deutete es an: Gerade in Rheinland-Pfalz findet sich noch eine hohe Dichte von Musikvereinen und Chören, die Kultur vor Ort pflegen. Dennoch gibt es auch hier Nachwuchssorgen, und wie die aktuellen Bauernproteste im Januar zeigen, wohl auch ein grundsätzliches Problem. Vordergründig geht es ums Geld, aber dahinter steckt die beunruhigende Frage nach Perspektiven. Zunehmend verblasst ja, um den Soziologen Hartmut Rosa zu zitieren, die „Schimäre des guten Lebens“, nämlich „die Vorstellung, dieses sei durch mehr Einkommen, höhere Bildung, bessere Gesundheit und Fitness, kurz: durch größeren Wohlstand zu verwirklichen“. Es seien, schrieb Rosa 2016, nur noch technische Machbarkeitsfantasien, die „die Augen der Jugendlichen zum Leuchten bringen, während die Frage nach politischen Reformen und Projekten den Blick sofort stumpf werden lässt.“
Lydia Thorn Wickert, Organisatorin des Rockenhäuser Festivals, fand in der Donnersberghalle als Verteterin der gastgebenden Gesellschaft für Kultur und Soziales, Donnersberg e.V., zu deutlichen Worten: Es gehe inzwischen darum, die Demokratie gegen Gewalt und Menschenverachtung zu verteidigen. Tatsächlich häufen sich die Versuche von Blut-und-Boden-Ideologen, den ländlichen Raum zu unterwandern und zu übernehmen; und einzelne Teilnehmer der Tagung berichteten auch von einer angespannten Situation, sobald es vor Ort um die Förderung vorgeblich unpopulärer Projekte gehe. Aber was nützt auf dem Land ein reizvolles Projekt an einem einzigen Tag – wie die vom nordrhein-westfälischen Solingen aus organisierte-„FahrradOper“ mit Musiktheater-Stationen entlang einer ausgewiesenen Fahrradroute? Zumindest brechen sie die Routine des Immer-weiter-so auf und öffnen Raum für Kreativität und Fantasie. Alle neun Initiativen, die von ihren Projekten berichteten, waren zufrieden mit der Publikumsresonanz. Aber das Abschlussgespräch zeigte auch ein starkes Bedürfnis nach längerfristiger Förderung und stärkerer Vernetzung.
In Rockenhausen setzt Lydia Thorn Wickert seit 2018 mit unerschütterlichem Optimismus auf das Potential des ländlichen Raumes. Geschickt bemüht sich das Festival um Vernetzung vor Ort und in die Weite, und es wächst auch die Vielfalt musikalischer Ansätze. Eine zentrale Anlaufstelle ist das Carillon am Museum für Zeit: Dort gab es zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes ein kurzes populäres Adventslieder-Programm vörtlicher Musikschaffender, ein hochprofessionelles Weihnachtslieder-Gastspiel mit dem Duo Merle Kollom (Carillon) und Jaak Lutsoja (Akkordeon) aus Estland, aber auch wieder einen Ausschnitt aus dem 2020 komponierten Rockenhausen-Almanach von Daniele Ghisi. In der Donnersberghalle gastierte am Abend der Tagung das DJ-Set Les Trucs und zwei Tage später die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz mit einem Sinfoniekonzert, in dessen Mittelpunkt die Uraufführung einer Auftragskomposition des Festivals stand: Das neue Klavierkonzert „Madre“ des Mailänder Komponisten Federico Gardella (geb. 1979) mit der Satzfolge „Waldszene I“, „Museum für Zeit“ und „Waldszene 2“ ist tatsächlich durch einen Gastaufenthalt in der Nordpfalz inspiriert. Dass es zugleich eine Auseinandersetzung mit Robert Schumanns „Waldszenen“ darstellt, wurde spätestens am nächsten Morgen in der Klaviermatinee des jungen japanischen Pianisten Tomoki Kitamura deutlich.
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