Seit seiner Gründung 1986 ist der Kissinger Sommer eine beliebte Station im alljährlichen Festivalkreislauf großer Orchester und Solisten. Das Einerlei der Allerweltsprogramme schließt Sternstunden jedoch nicht aus. Diesmal setzte Janine Jansen Tschaikowskys Violinkonzert mit rückhaltlosem Körpereinsatz, Energieglut und origineller Poesie unter Strom.
Ihre spontanen Volten bescherten dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks manche Schrecksekunde. Doch unter dem Gastdirigenten Wladimir Fedosseyew reagierte das Eliteensemble erstaunlich rasch, gar vorausahnend.
Mit ihrer Attraktion für ein zahlreiches, zahlungskräftiges Publikum helfen solche Konzerte bei der Finanzierung von Kultursektoren, die es im Musikbetrieb schwer haben. Auch Komponisten und das Lied fristen eher ein Randdasein. Seit dem Vorjahr kombiniert der Kissinger Sommer die beiden Gebiete zu einer „LiederWerkstatt“ unter der Leitung des herausragenden Pianisten und Programmgestalters Axel Bauni. Wie schon bei den vier LiederWerkstätten des Bad Reichenhaller Festivals AlpenKlassik, die Intendantin Kari Kahl im Bayerischen Staatsbad fortsetzt, hat sich eine Interpretenfamilie zusammengefunden, die nach Neuem und Rarem giert. Bauni nutzte dies wiederum zu einer historisch und stilistisch beziehungsreichen Entdeckungsreise samt Mehrfachvertonungen rund um die acht Uraufführungen nach Gedichten des diesjährigen Schlüsselpoeten Eduard Mörike. Nicht allein Hugo Wolf, Brahms, Schumann, Pfitzner, Eisler, Reger oder Schoeck waren vertreten, sondern auch der Dirigent Felix Weingartner oder Eugen d´Albert.
Wolfgang Rihm (in „Zwei kleine Lieder“) und Peter Ruzicka („Zwei Gesänge für Bariton und Klavier“) haben Mörikes „Leben und Tod“ vertont. Rihm reduziert die Textur dynamisch und satztechnisch extrem: oft nur drei karge Linien, viele Liegeklänge, akkordische Auffüllung nur in wenigen Affekthöhepunkten. Diese kargen Vorgaben luden Olivia Vermeulen mit leuchtendem Mezzo und der klar strukturierende Pianist Jan Philipp Schulte erstaunlich plastisch auf.
Ruzickas wesentlich gestenreichere Komposition signalisiert die textliche Verstörung nicht im Beinahe-Verstummen wie Rihm, sondern in einsamen Soli von Stimme (raumgreifend sonor Hans-Christoph Begemann) und Klavier, im pausenzerfurchten Satz.
Manfred Trojahn („Drei Gesänge an Philomele“) und André Werner haben Mörikes „Um Mitternacht“ äußerst gegensätzlich vertont. Trojahns Lied lebt aus Schönklanglinien und textgebundenem Tempokontrast innerhalb der beiden Strophen. In die beiden übrigen Lieder „An Philomele“ und „Aubade, le matin suivant“ bezieht der Komponist musiktheatralische Elemente in Gesten und Gängen der Interpreten ein. Solcher Gegenständlichkeit setzt André Werner ein abstraktes, Extremlagen und Pedal-Nachhall des Flügels nutzendes Netzwerk aus Einzeltönen entgegen.
„Somne Levis“ (Süßer Schlaf) hat Enno Poppe seine zyklisch aneinandergehängten „Vier Stücke für Singstimme und Klavier“ genannt. Die anfangs in engen Intervallen repetierten Einzeltöne greifen immer weiter, sprunghafter aus, ehe im titelgebenden letzten Lied „An den Schlaf“ die Nähe von Schlaf und Tod in stockender Beziehung von Stimme, Instrument und Pausen begreifbar wird. Aribert Reimann hat seinem vor einem Jahr in Bad Kissingen uraufgeführten Rückert-Monolog „Rose, Meer und Sonne“ nun in Mörikes „An Hermann“ ein ähnlich koloraturenreiches Virtuosenstück entgegengestellt. Aber den Bariton ersetzt jetzt Andreas Posts sehr heller, textverständlicher und intonationssicherer, aber zuweilen auch schneidend scharfer Tenor. Und das Klavier (Bauni) tritt hinzu als Stütze und Widerspruch mit dissonanten Akkordfloskeln. Im Flügelinneren gezupfte Saiten suggerieren einen Albtraum, ein klirrend erregtes Nachspiel bricht jäh ab – insgesamt das verstörende Drama einer Knabenliebe. In drei Liedern – „Auf einen Klavierspieler“, „Nachts am Schreibepult“, „Mit einem Anakreonskopf und einem Fläschchen Rosenöl“ – verdichtet der erst dreißigjährige Alexander Muno sehr klangatmosphärisch Innenbilder der Einsamkeit. Ein opernszenenhaftes, zugleich witzig-ironisches Zugstück gelang Wilhelm Killmayer im „Geburtstagsgedicht“ mit hintersinnigen Anspielungen auf Kultstücke wie Bachs Matthäuspassion und mit unwiderstehlicher Vis comica. Zum Uraufführungserfolg trug neben Hans Christoph Begemann der kurzfristig eingesprungene, 24 Jahre alte Pianist Boris Kusnezow bei. Der gebürtige Moskauer, in diesem März Gewinner des Deutschen Musikwettbewerbs, hatte innerhalb weniger Tage ein Dutzend Lieder völlig neu einstudiert und bot sie erstaunlich bravourös (in Hugo Wolfs „Feuerreiter“) und klangplastisch dar.
Das erste der beiden Konzerte hatten Felicitas Fuchs mit geschmeidigem, facettenreichem Sopran, Olivia Vermeulen und Jan Philipp Schulze mit Johannes Brahms’ Duett „Wir Schwestern“ köstlich hinterhältig abgeschlossen. Am Ende des zweiten Abends tauchte das anzügliche Mörike-Gedicht noch einmal auf – als Überbrettl-Kabarettsong von Oscar Straus in einem Gemeinschafts-Arrangement der Bad Kissinger Liederwerkstatt-„Familie“ für vier Stimmen und sechs Hände. Dieser hinreißende Kehraus beflügelte nicht allein das Unternehmen Mörike, sondern warf noch einmal einen Schlagschatten zurück auf einen vermeintlich bekannten Dichter mit seinen Abgründen hinter der Biedermeierfassade.