Rasputin? Rasputin, ja: der einflussreiche Günstling des letzten Zaren; der Vertraute, womöglich sogar Geliebte der Zarin; Wunderheiler des von den Ärzten aufgegebenen Zarewitsch; ein saufender sibirischer Bauernbursche, der in den Gemächern des Hofes zu Hause war. Orthodoxer kirchenfrommer Wanderprediger, der orgiastische Exzesse mit Nonnen und Mägden feierte; glühender Pazifist und hemmungsloser Kriegstreiber; prophetischer Verkünder einer blutigen Zukunft; ein machtbesessener Intrigant, der die Massen verführte und sich Adel und Duma zu Todfeinden machte. Selbst sein Ende 1916 war von Unbegreiflichkeiten bestimmt. Vergiftet, erschossen und erstochen wollte er nicht sterben, und noch als man ihn endlich ertränkte, soll er immer noch Lebenszeichen gegeben haben. Zwei Jahre nach ihm werde die Zarenfamilie sterben, hatte er vorausgesagt – auch darin hat er Recht behalten.
Einojuhani Rautavaara, der Grand Old Man der finnischen Musik, hat in seiner jüngsten Oper, 2003 in Helsinki uraufgeführt und bald auch in St. Petersburg gespielt, dem Geheimnis dieser schillernden Gestalt und der sich um ihn rankenden Mythen nachgespürt, die nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung geheimer Staatsarchive und neuer Dokumente noch facettenreicher geworden sind. Da bestätigt sich, was schon vermutet wurde: Rasputin war ein Mensch in seinem Widerspruch, nicht Heiliger und nicht Teufel, anbetungswürdig so wenig wie verdammenswert.
Gerade dies mag Rautavaara für seine achte Oper gereizt haben – die Ambivalenz dieser historischen Gestalt, die eindeutig nicht zu fassen ist und sich in ihren wechselnden und konträren Erscheinungsbildern spiegelt in den Menschen und Massen, die ihn in einer aufgewühlten historischen Endzeit umgeben. Rautavaara, wie immer auch sein eigener Librettist, holt weit aus in diesem opus summum seines Schaffens; einem bilderreichen Musiktheater, das fast dreieinhalb Stunden währt, 24 Solistenrollen, einen riesigen Chor und ein großes Orchester abfordert. Das Werk hat einen langen Atem, vergleichbar Tolstois „Krieg und Frieden“, reiht geduldig Szene an Szene, scheint auf den ersten Blick ein historischer Bilderbogen und ist doch viel mehr: ein ausgespannter Rahmen für scharf ausgeleuchtete Psychogramme schwer zu fassender Gestalten in grenzenloser, sprachloser Einsamkeit auch um Rasputin herum. Der Zar etwa ein Herrscher, der weder Herrschen will noch kann; die Zarin aus dem Hause Hessen-Darmstadt eine glühende Russin, die vom Volk als Deutsche abgelehnt wird.
So ausführlich Rautavaara auch sein Zeittableau ausbreitet, so stringent findet dies zu seiner Form. Epische Breite bindet sich immer wieder zu dramatischen Ballungen, monologische Porträtstudien wachsen in grelle, hochgepeitschte Volksszenen. Die zersplitter- te offene Dramaturgie seiner vorangegangenen großen Oper, die die Innenwelt des Vincent van Gogh mit seinen subjektivistischen Wahnbildern spiegelt, gibt Rautavaara auf zugunsten einer gradlinigen szenischen und musikalischen Erzählstruktur, getragen von einem dunkel glosenden musikalischen Fluss, der sich in seinen Eckpunkten ausbreitet zwischen geistlicher Sammlung meditativer Chorgesänge in orthodoxem Kirchenstil und (frei erfundener) zigeunerhafter Volksmusik, die nie ein Volk gesungen hat. Rautavaara, inzwischen weit entfernt von seinen dodekaphonischen Anfängen, liebt heute einen aus einer unendlichen Melodie wachsenden Duktus verhangener Farben, düster getönter Intensität und sich lang vorbereitender geballter Ausbrüche. Diese Musik hat einen ganz eigenen, quasi aus der Zeit fallenden Ton, auf den man sich einlassen muss. In Lübeck ist das dem Dirigenten Roman Brogli–Sacher mitsamt seinen singenden und instrumentalen Scharen mit nie nachlassender, beredsamer Intensität meisterlich gelungen. Dass diese deutsche Erstaufführung im Rahmen des alljährlichen Lübecker Zyklus neuer skandinavischer Opern großes überzeugendes Format gewann, ist außerdem vor allem auch Marc Adams Inszenierung zu danken: Bilder wie aus der Welt von Tschechow, in denen die Figuren in Einsamkeit und Verlorenheit einfrieren, konterkariert durch die zurückgenommenen, doch überrumpelnden Massenszenen des Volkes, das am Ende vor blutigrotem Horizont die Schrecken der drohenden bolschewistischen Revolution heraufbeschwört – und zugleich einen ästhetischen Vorgriff auf den Konstruktivismus der sowjetischen Avantgarde wagt, die gerade in Hamburg wie in Wien durch die Malewitsch-Ausstellungen breit präsentiert wird. Die Titelpartie hat Rautavaara für Matti Salminen geschrieben. In der Deutschen Erstaufführung singt sie inmitten des derzeit exzellenten Lübecker Ensembles Vincent Le Texier, ein hagerer Riese, stimmlich etwas heller als der finnische Großbassist timbriert, doch von dunkler beschwörender Gefährlichkeit und einer alles dominierenden Egozentrik. Dass die mit langen Ovationen gefeierte Aufführung überhaupt möglich wurde, dankt das Lübecker Theater Christoph von Dohnányi, dem einstigen GMD an der Trave, und seinem NDR Sinfonieorchester, die durch ein Benefizkonzert das große Unternehmen finanziell abstützten – eine schöne Tat, aber für die Lübecker Bühnen keine Allgemeinperspektive für die Zukunft. Die Stadt hat, gerade in einer Zeit, in der das Theater künstlerisch floriert wie schon lange nicht mehr, drastische Zuschusskürzungen angekündigt, über die endgültig noch nicht beschlossen wurde, die aber, sollten sie eintreten, Gesicht und Gewicht der Bühnen schwer beschädigen würden, und das ausgerechnet, nachdem sich die Stadt als Kulturhauptstadt Europas beworben hatte und in jeder Politiker-Rede so gern Thomas Manns „Lübeck als geistige Lebensform“ beschworen wird.