Als letzte Erzählung seines Novellenzyklus’ „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ verfasste Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1795 „Das Märchen“, mit Irrlichtern, einer Gold fressenden Schlange, einem Riesen, einer traurigen, todbringenden Fee Lilie hinter einem nur in einer Richtung überquerbaren Fluss, dem Fährmann, einem Alten mit seiner Wunderlampe nebst Frau, einem Prinzen, sowie einem unterirdischen Tempel mit vier metallischen Königen. Diese pleonastische Häufung wunderlicher Märchenelemente stellte selbst Goethe-Exegeten immer wieder vor Rätsel.
Keine Skrupel bewies der 1941 in Lissabon geborene Emmanuel Nunes, Schüler von Stockhausen und Boulez, die Novelle in direkte Reden aufzulösen und sich so selbst das Libretto für seine erste Oper zu verfertigen. Schon mit seinen sinfonischen Werken hatte Nunes, einer der wichtigsten und erfinderischsten Komponisten seiner Generation, mit überlangen Spieldauern aufgewartet. Die beim Verlag Ricordi erschienene Oper in deutscher Sprache kommt mit Prolog und zwei Akten auf eine reine Musikdauer von über vier Stunden. Für das portugiesische Publikum bedeutete die Uraufführung von Nunes’ Partitur eine echte Herausforderung. Live in vierzehn große Theater des Landes übertragen, soll sie rund elf Millionen Zuschauer erreicht haben und damit mehr Rezipienten als je eine Opernuraufführung zuvor. Als aber nach gut drei Stunden der zweite Akt begann, war das Teatro Nacional de São Carlos nur noch rund zur Hälfte gefüllt. Der zweite, nicht mehr wörtlich auskomponierte Schlussteil des mit Fern-Orchester, Fernchor und IRCAM-Elektronik ästhetisch an Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ anknüpfenden „Märchens“ stellt an die Zuschauer noch gesteigerte Anforderungen.
Die von dem Avantgardisten kreierte sinnliche und spirituelle Klangwelt – vor, über und hinter dem Zuschauer – integriert diverse Echos aus der Musikhistorie, gemahnt bisweilen an die Vogelkonzerte von Messiaen, wartet aber auch mit überraschend tonalen Flächen auf und nutzt, wenn sie komisch sein will, Lautwiederholungen, wie man sie aus den Bühnenwerken von Judith Weir kennt. Das mit vier- bis sechsfachem Holz und Blech, zwei Harfen und bis zu neunfachen Streichern, sowie gigantischem Fern-Schlagwerkkörper besetzte Orquestra Sinfónica Portugesa wird von Peter Rundel aus dem Zuschauerraum gefühlsstark und souverän geleitet. Aus dem deutschsprachigen Sängerensemble ragen der Bassist Matthias Hoelle in der Doppelrolle als Fährmann und Mann mit der Lampe, sowie die Sopranistin Silja Schindler als (leider nicht sehr textverständliche) Lilia heraus.
Als äußerst problematisch erweist sich hingegen die szenische Seite der Uraufführung: Die Verdopplung der Figuren in Sänger- und Sprecher-Stimmen hat Nunes selbst vorgeschrieben. Die österreichische Regisseurin Karoline Gruber treibt das Spiel weiter in eine Verdrei-, Vervier- und Vervielfachung durch Pantomimen und Tänzer (Choreographie mit Improvisation: Amanda Miller). Artisten verdoppeln die travestierenden Soli der Irrlichter auf Stelzen oder in Stretch-Schlauchanzügen. Teils naiv (mit gemalten Fischen und Objekten im Fluss, sowie den Belohnungsobjekten Kohlkopf, Zwiebel und Artischocke an Vorzeigestöcken), teils technisch aufwendig, mit Flugwerk und Bühnenwagen, ist die Szene bemüht, dem Auge des Betrachters eine Fülle optischer Reize zu bieten (Ausstattung: Roy Spahn). Die Flut an Bildern verbraucht sich rasch und versiegt im zweiten Teil mit arg beliebigen, repetierten Projektionen. Ein Castorf‘scher Live-Kameramann sorgt obendrein für Verdopplung der hektischen Volksbewegung als Projektion.
Im Schlussakt seiner Oper verlangt der Komponist zweimal, längere Passagen des Goethe-Textes als „Manuskript“ zu projizieren; im ersteren Fall setzte das Produktionsteam statt dessen den Film eines Vulkanausbruchs ein, am Ende aber wird der Text des „Märchens“ tatsächlich auf einen Gazeschleier geworfen: Während das Orchester bereits verstummt und verdunkelt ist, singt der Chor aus der Mittelloge Extrakte dieses Textes, rezitieren die Darsteller auf der Bühne Reminiszenzen der Handlung als Sprechsymphonie.
Der körperlich leidende Komponist wurde vom Rest des Premierenpublikums gefeiert, zeigte sich aber in einem Gespräch entsetzt über die szenisch platte Umsetzung seiner Partitur, eines Werkprozesses, der die vergangenen dreißig Jahre in Anspruch genommen hat.