Im Rahmen des auf vier Jahre geplanten deutsch-tschechischen Kulturprojekts „musica non grata“ widmete die Prager Oper dem Komponisten Alexander Zemlinsky zu dessen 150. Geburtstag ein Festival-Wochenende in der Staatsoper, der Spanischen Synagoge und dem Musikmuseum. Dessen Höhepunkt war die Uraufführung des von Antony Beaumont in eine aufführungspraktikable Fassung gebrachten Opernfragments „Malva“.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die 2020 nach einer Renovierung mit einem Finanzvolumen von 52 Millionen Euro wiedereröffnete Staatsoper die Spielstätte des Neuen Deutschen Theaters. Dort wirkte von 1911 bis 1927 Alexander Zemlinsky als Opernchef von herausragender Bedeutung. Er dirigierte in dem für seinen innovativen Spielplan gerühmten Haus Werke von Krenek, Hindemith, Korngold und Schreker. 1924 brachte Zemlinsky zum Beispiel die Uraufführung der Monolog-Oper „Erwartung“ seines Freundes Arnold Schönberg, die an der Staatsoper Prag am 26. November 2022 mit Weills „Die sieben Todsünden“ als Neuproduktion in der Reihe „musica non grata“ herauskommen wird. Die Festival-Konzerte vom 8. bis 10. Oktober stellten zum Beispiel Zemlinskys Klarinettentrio op. 3 in Bezug zu Johannes Brahms, seine sechs Maeterlinck-Lieder op. 13 neben Alban Bergs „Lyrische Suite“ und Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1, Zemlinskys Streichquartett Nr. 3 op. 19 neben Mozarts Dissonanzen-Quartett.
Zwischen den „Malva“-Ausschnitten und der bekannten Lyrischen Sinfonie erklangen am Sonntagabend in der Staatsoper die von Antony Beaumont arrangierten Gesänge „Frühlingsglaube“ und „Geheimnis“ für gemischten Chor und Streichorchester. Zemlinskys „Hochzeitsgesang“ für Chor und Orgel, hier bemerkenswerterweise mit Kantorenstimme (Michal Forst), ist aufgrund ihres Entstehungsanlasses von Bedeutung. Zemlinsky komponierte ihn 1896 für die Trauung der Tochter des Kantors Jakob Bauer, der in der Wiener Spharadim-Synagoge gegen die Tradition musikalische Beiträge durchgesetzt hatte. Für Adolf Melichar und den Chor gab es vom halb gefüllten Auditorium freundlichen Applaus.
In den 1924 in Prag uraufgeführten Lyrischen Symphonie op, 18 hatte in erster Linie die Sopranistin Johanni van Ooustrum das vokale Schimmern, die emotionale Kraft und die sinnliche wie entrückte Haltung für das brachiale bis rauschhafte Hybridwerk aus Sinfonie, Kantate und Lied. Über den von Karl-Heinz Steffens anfangs überaus stürmisch entfesselten Klangmassen fiel es Michael Nagy nicht immer leicht, zum melodischen Fokus Zemlinskys vorzudringen. Der Bariton kam über die vom Komponisten geforderte Expression des ersten Satzes erst ziemlich spät zum Stimmungsgleichklang mit van Ooustrum. Ihrer sphärischen, berückend wie leicht distanziertem Haltung konterte Nagy in den Poemen des bengalischen Nobelpreisträger Rabindranath Tagore mit der Kraftpose des Sensiblen. Das Staatsopernorchester zeigte mitunter diffuse Mischungen der Instrumentengruppen und in den großen Bläserbesetzungen weitaus weniger Farben, als der Komponist vor hundert Jahren am gleichen Ort bei seiner Vision eines freitonalen Fluidums vorgesehen hatte.
Die „Malva“-Ausschnitte dagegen überraschten und faszinierten auch als offenes Minidrama: Ein Stück über „Menschen, die sich nicht verstehen und deren Gefühle im Orchester rumoren“ nennt Antony Beaumont diesen Fund, eine Dreiecksbeziehung mit einem lachenden Viertel. Denn dem Landstreicher, mit dem Malva in Gorkis Erzählung schließlich auf und davon zieht, gab Zemlinsky bereits im Vorspiel ein prägnantes Thema. In sehr ariosen, aber kaum geschossenen Formen spitzt sich der Konflikt zwischen Wassili und seinem Sohn Jakob in den von Beaumont umfänglich ergänzten Gesangspartien, unter denen das Orchester mehr klagt und schreit als die Worte. Die Autorschaft des Textbuchs ist allerdings unbekannt.
Die Entstehung des Fragments – nach Beaumonts Zählung eines von fünf oder sechs unvollendeten Opernprojekten Zemlinskys – war um 1912. Ein Solo lässt sich als Zemlinskys Klage um seine in diesem Jahr verstorbene Mutter verstehen. Wie in den Opern „Eine florentinische Tragödie“ und (dem auch von Beaumont ergänztem) „König Kandaules“ inspirierte sich der Komponist an einem erotischen Dreieckskonflikt, in dem sich konform zum Zeitgeist von 1900 Männer im Kampf um eine ambivalente Frau mit wachsender Gewaltbereitschaft zermürben.
Bei Zemlinskys vielstimmigem, scharfen und zugleich fluoreszierenden Orchestersatz sind Chefdirigent Karl-Heinz Steffens und das Orchester auf einem weitaus besseren musikalischen Verständnis-Level als in den Flächen der Lyrischen Sinfonie. Man weiß kaum etwas über den Anlass von Zemlinskys „Malva“-Plan noch über die Gründe für die Nichtbeendung der Partitur. Die Sopranistin Jana Sibera (Malva), der Tenor Josef Moravec (Jacob) und vor allem der in den erhaltenen Partiturteilen dominierende Bariton Jiří Hájek (Wasili) wurden gefeiert. Auch deshalb, weil dieses in einem für Zemlinsky ungewohnt realistischem Ambiente spielende Fragment bestätigt, dass klangliche Sättigung und dramatische Wendigkeit an der Schnittstelle zwischen Debussy und Edel-Verismus recht gut zusammenkommen.