„Wo bleibt das Negative?“ fragt UltraSchall im fünften Jahr seines Bestehens und erinnert damit daran, dass das gemeinsam von DeutschlandRadio Berlin und vom Sender Freies Berlin veranstaltete „Festival für neue Musik“ einen Vorläufer namens „ex negativo“ hatte.
Unter diesem Motto ging auch eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion auf die Suche nach dem verlorenen Stachel der Avantgarde. Hat die junge Generation ihren Frieden mit dem Publikum, um den Preis der Anbiederung mit süffigen Klängen und glatten Struk- turen,gemacht? Die „reine Lehre“ vertrat Heinz Klaus Metzger, um die Durchsetzung unbequemer Töne seit Jahrzehnten hoch verdient. Demnach habe Wahrheit vor Schönheit zu gehen, Kunst vor allem kritischen Einspruch gegen herrschende Strukturen zu führen. Schon wenn ein Schönberg vom Philharmonie-Publikum beklatscht werde, sei das schockierend Neue dieser Musik verloren gegangen, ereigne sich ein Phänomen der Massenkultur. „Eher Respekt“, der über die Wahrnehmung des Einzelnen noch nichts aussage, sah darin Helmut Lachenmann, selbst immer wieder als der „große Verweigerer“ etikettiert. Im heutigen Medienspektakel könne nur noch die radikale Sensibilität, die schutzlos dargestellte eigene Vision provozieren. Ein Matthias Pintscher, der opulenten Orchesterorgien verdächtig, widersprach da nicht, wollte höchstens den Hörer „ein Stück auf seinem Weg mitnehmen“. Auch „Beckmesser“ Max Nyffeler meinte, heutzutage sei es sinnlos, Klaviere aus dem Fenster zu schmeißen – im Gegenteil, unser bisschen Kultur ist unbedingt zu verteidigen...
Positionen, die in den UltraSchall-Konzerten klingend nachzuvollziehen waren. Die Generation um 30 konnte ihr Werk umfangreich wie selten präsentieren. Porträtkonzerte von Misato Mochizuki, Jörg Widmann, Thierry Blondeau überstürzten sich geradezu. Dargeboten vom renommierten Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Roland Kluttig faszinierte Widmanns „Lichtstudie“ vor allem durch helltönende Bläserraffinesse in fein ausgehörten Klangbändern, die beim Absturz ins Dunkle jedoch allzu eindeutige „Atmosphères“ hervorriefen. Johannes Maria Stauds Klavierkonzert „Polygon“ mit dem ungemein präzisen Solisten Thomas Larcher zeigte schärferes Profil: von bildlich-mathematischen Strukturen angeregte kantige Kraftgesten in vielfältigen Wendungen. Dennoch, gegen Bernd Alois Zimmermanns erschütternde „Ekklesiastische Aktion“ verausgabten sie sich im Ungefähr: Was Lachenmann mit dem „ungeschützten Bekenntnis“ gemeint haben könnte, wurde hier trotz unkonzentrierter, halbherziger Wiedergabe bewegend deutlich. Auf ganz anderer Ebene erreichte diese authentische Sprachkraft nur noch Erhard Großkopf mit den endlich uraufgeführten „Zwölf Stücken für Streichquartett“ (1998). Das zunächst fast schulmäßig wirkende Abgreifen von Instrumentenkombinationen und elementaren Tonfolgen schafft in komplex-transparenten Gebilden urplötzlich Raum für die zarte „Berührung der Seele“, die der Komponist sich wünscht.
Zimmermann blieb Maßstab eines Ich und Welt umfassenden, Struktur und Emotion in eins setzenden Komponierens. Kein Wunder, dass dagegen manch anderer gestandene Kollege allenfalls den „avantgardoiden Dienstleister“ (Lachenmann) abgeben konnte. Beat Furrer etwa gilt als Sachwalter klanglicher Sensibilität, doch seine „Ultimi cori“ für gemischten Chor und drei Schlagzeuger erwiesen sich als recht trockener Katalog der Effekte des Minimalen, des Geflüsterten und Gezischten, der vibrierenden Reibeklänge, der sanften Gong- und Glockentremoli. Das ist gewiss Schönheit ohne Risiko. Der knapp 15 Jahre jüngere Enno Poppe geht den umgekehrten Weg. Der Träger des Busoni-Preises der Akademie der Künste – erstmals im Rahmen von UltraSchall vergeben – steht sich mit seiner zu sperrigen Erfindungen führenden Systematik lieber selbst im Weg, als der gefälligen Spontaneität anheimzufallen. Die Ensemblestücke „Gelöschte Lieder“ und „Holz“ erzeugen mit grellem Klangbild und gezackten Figurationen fast schmerzhafte Intensität, die zu mikrointervallisch schwankenden Harmonieflächen erstarren.
Neuheit um jeden Preis, im auf Festivals üblichen „Uraufführungswahn“, will UltraSchall nicht befördern, vielmehr offenes, undogmatisches, lustvolles Sichten des Vorhandenen. Spektakuläre „Entdeckungen“ sind so kaum zu machen, aber diese „Repertoirepflege des Zeitgnössischen“ vermittelt im Blick auf „Nachhaltigkeit“ nicht weniger spannende Einsichten und findet erstaunliche Publikumsresonanz.
Das „Neue“, weniger mit avantgardistischem Stachel als durch zutiefst persönliche Kreativität bestürzend, ereignete sich wieder einmal da, wo es nicht vermutet wurde: im crossover-gefährlichen Grenzbereich zwischen Komposition und Improvisation. Der britische Gitarrist Fred Frith, durch Auftritte mit Gruppen wie „The Cow“ oder in der „Company“ von Derek Bailey bekannt geworden, inszeniert „Trouble with Traffic“ mit allen nur erdenklichen Klangmaterialien und -quellen, traktiert die Gitarre mit Pinseln und Bürsten, lässt Hölzer aller Größen und Stärken vibrieren, entlockt ihr entnervendes Gekreisch, Vogelgezwitscher und schmerzliches Wimmern. Wie sich hier musikalische Prozesse ebenso systematisch wie organisch fortentwickeln, stets dicht und lebendig bleiben, in reicher Farbigkeit atemberaubende Polyphonie entsteht, der Faden der Kommunikation niemals abreißt – dagegen sehen die wohlerzogenen Newcomer der E-Musik-Szene ganz schön alt aus.