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Gaspard-Félix Tournachon: Hector Berlioz (1803–1869).
Gaspard-Félix Tournachon: Hector Berlioz (1803–1869).
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Ohne Harry Potter läuft nichts – Berlioz’ „L’enfance du Christ“ szenisch in der Philharmonie

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Die irische Regisseurin Fiona Shaw, durch die „Harry Potter“-Verfilmungen bekannt als Aunt Petunia Dursley, inszenierte in der Philharmonie Berlin Hector Berlioz’ Oratorium von der Kindheit Jesu, die geistliche Trilogie „L’enfance du Christ“ für Solisten, Chor, Orchester und Orgel aus den Jahren 1850 bis 1854. Deren – gerade verglichen mit der letzten szenischen Produktion an diesen Ort, Peter Sellars’ hinreißender Janácek-Inszenierung des „Füchslein Schlaukopf“ (vgl. nmz vom 13. 10. 2017) – äußerst karge szenische Einrichtung erreicht kaum die Wirkung einer Christmas Pantomime in einem britischen Gemeindehaus.

Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin ist dafür in die Bühnentiefe, bis auf die Chor-Stufen, positioniert. So entsteht Raum für einen Teppich mit zwei Schemeln und einen Vielzweck-Kasten. Links neben dem Orchester liegt in einem Bett ein älterer, glatzköpfiger Mann: zunächst wird er als König Herodes (Christopher Purves) von beängstigenden Träumen der Ablösung seiner Herrschaft durch ein neugeborenes Kind singen. Links oben, hoch über dem Orchester, singt der Erzähler, der dann – mal mit einer Taschenlampe, mal mit einem rechteckigen Scheinwerfer – Licht auf das von ihm besungene Geschehen werfen wird und bisweilen auch dessen Hilfsregisseur oder Requisiteur dienen wird.

Ein Kind in weißem Hemd läuft quer über die Szene, findet eine Krone und bringt sie dem schlafenden Alten. Dessen Gefolgsmann Polydor (Johannes Schendel) tritt in heutiger Kleidung mit einem Speer auf. Herodes krönt sich und unternimmt wütende Tritte gegen die Möbel.

Mehr Genuss für Aug’ und Ohr bietet der junge musikalische Chef dieses Orchesters: Robin Ticciati arbeitet merklich engagiert, pointiert und mit sinnlichem Empfinden die Schönheiten aus dieser immer wieder mit langatmigen Strecken aufwartenden Partitur heraus. Deren spannendste Momente sind jene, die an andere Kompositionen von Berlioz gemahnen. Opernhafte Reaktionen der Singenden scheinen in den Rezitativen vorgezeichnet, laufen aber häufig ins Leere.

Von rechts treten Josef und Maria, mit einer Kinder-Puppe im Arm auf. Sie sind so krippenspielmäßig gewandet, dass auch mit dem besungenen Lämmlein, das die Maria-Darstellerin (die Mezzosopranistin Sasha Cooke) ihrer improvisierten Wiege als Kuscheltier entgegenstreckt, wenig Stimmung aufkommen kann.

Spannender gerät der Einsatz des Fernorchesters und dazu rechts und links oben in der Höhe des Raumes, der Gesang von Damen des RIAS-Kammerchors als Geister des Lichtes, die sich musikalisch als verwandte Geschöpfe der Irrichter aus Berlioz’ „Damnation de Faust“ erweisen.

Die Flucht von Josef und Maria vor Herodes erfolgt quer durch den Zuschauerraum der Philharmonie. Der Erzähler rollt den Teppich zusammen um kurz darauf einen längeren Läufer wieder auszulegen, wenn das Paar ein Refugium in Ägypten findet. Mit der Darstellung von Josef und Maria tut sich die Bühne, insbesondere die Opernbühne, naturgemäß stets schwer – außer vielleicht in der Ironisierung durch Franz Schreker, als Heilige Familie in dessen Oper „Der Schmied von Gent“.

In Fiona Shaws Berlioz-Bebilderung rastet das Paar nach seiner großen Runde durch das Publikum auf der rechten Vorbühne. Josef (mit sehr angenehmem Organ der Bariton Jacques Imbrailo) wandert durch die Gruppe der Choristen (Choreographie: Kim Brandstrup). Die erwünschte Aufnahme in der Fremde findet das Paar mit seinem Kind dann bei einem Ismaeliten, welcher Maria („Parsifal lässt grüßen“) hier die Füße wäscht. Es ist wiederum Christopher Purves, der nun, in der positiven Partie des Vaters der Familie, seine Bassbaritonstimme klangschön strömen lassen kann.

Traumhaft ist die Wirkung des wohl bekanntesten Stücks aus diesem Oratorium, das Zusammenspiel zweier Flöten mit der „thebanischen“ Harfe, hier im Licht konzentriert auf das solistische Spiel dieser Gruppe.

Jener Knabe, mit dem die szenische Version in Berlin begonnen hatte, mischt sich nun erneut ins Spiel, und spätestens jetzt bemerkt der Betrachter an der Brille des Jungen, dass es sich hierbei um keinen Anderen als um Harry Potter handelt, der zunächst einen Lorbeerkranz bis auf dessen Gestell (als Dornenkranz?) leer pflückt und dann aus zwei Zauberstäben ein Kreuz bastelt. Und plötzlich fällt es dem Rezensenten auch wie Schuppen von den Augen, an wen ihn der bärtige, korpulente Erzähler erinnert hatte, an den Darsteller des Halbriesen Hubeus Hagrid.

Der dritte Teil des Oratoriums spielt zehn Jahre nach dem zweiten, und so reicht Maria nun Harry Potter die Hand, der – so wird es besungen – als Jesus in seine alte Heimat zurückkehren darf. Langsam erlöschen die Pultlampen des Orchesters, und auf der konzertanten Chor-Position in der Philharmonie singen die schwarz gewandeten Choristen mit Flackerkerzen in ihren Händen vom Mysterium, den a cappella Schluss des circa 90-minütigen Werks. Genussreich realisiert dies der von Justin Doyle einstudierte RIAS Kammerchor, mit großer Farbigkeit, bei reiner Intonation, im Verein mit dem einstimmenden Solotenor Allan Clayton als Erzähler – Fade out, Ende und voraussichtlich keine Fortsetzung von Joanne K. Rowling.

Die Premiere von „L’enfance du Christ“ in der Philharmonie erntete heftigen Beifall.

  • Premiere: 17. Dezember 2017.

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