Sören Nils Eichbergs Oper „Schönerland“ ist neben dem Schauspiel „Wir werden unter Regen warten“ von Ihsan Othmann eine der beiden Uraufführungen, mit denen das Hessischen Staatstheater Wiesbaden auf das aktuelle Thema „Flucht“ reagiert. Im Theatermagazin liest man dazu, es gehe nicht um das Dokumentarische, bei dem die Geflüchteten im schlimmsten Falle eine „Illustrationsstaffage“ bilden würden, sondern um eine Annäherung „mit genuin künstlerischen Mitteln“.
Beim Einführungsvortrag zu Eichbergs „Oper in 10 Bildern“ berichtet Dramaturgin Katja Leclerc indessen auch von Zweifeln des Produktionsteams, ob die Oper in diesem Fall überhaupt die adäquate Kunstform sei. Und sie gibt ausdrücklich zu Protokoll, dass die ersten Ideen für dieses Auftragswerk des Hessischen Staatstheaters auf das Jahr 2013 zurückgehen. „Schönerland“ wurde in der Entstehung von der großen Flüchtlingskrise im Herbst 2015 gewissermaßen überrollt.
Mit der Abwendung vom dokumentarischen Theater und der Suche nach den genuin künstlerischen Mitteln der Oper finden wir den Komponisten, seine Librettistin Therese Schmidt und Regisseurin Johanna Wehner auf den Spuren einer bald 80 Jahre alten Problembeschreibung. Nachdem nämlich Mitte der 1920er Jahre im deutschen Sprachraum die Zeitoper en vogue war, die Kurt Weill im Nachhinein als „Dramatisierung halb wichtiger Teilprobleme des heutigen Lebens“ glossierte, suchte die auf diesem Gebiet erfolgreiche junge Komponistengeneration, zu der neben Weill vor allem Hindemith und Krenek gehörten, wenige Jahre später nach neuen Wegen. „Die goldenen Zwanziger“ mit ihrem spaßgesellschaftlichen Überzug waren vorbei, und mit der Weltwirtschaftskrise einher ging eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. In einem Interview mit der Zeitschrift „Melos“ plädierte Weill 1931 nun „für eine große Form des Theaters, die in gehobener Sprache, in gesteigerter Realität die Ideen der Zeit den zeitlosen Ideen einordnen will.“
Nicht von ungefähr bietet es sich an, Weill zu zitieren. Eichbergs energische, oft vorwärtstreibende, Musik, die Gliederung der Oper in 10 Bilder, die Tendenz zur ironischen Brechung verweisen auf das Modell von „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – Weills und Brechts Oper, die 1930 in Leipzig uraufgeführt wurde. Der Chor spielt eine große Rolle, die von Andrea Baker verkörperte markante Altpartie der Kader in „Schönerland“ erinnert stark an die Rolle von Weills Leokadja Begbick, dem Gangster-Trio bei Weill steht ein Künstler-Trio bei Eichberg gegenüber, und sogar das falsche Idyll, in dem sich Weills Jakob Schmidt bei Heurigenmusik zu Tode frisst, hat ein Pendant in einer kitschigen multikulturellen Heimatszene und im ironischen Zitat des Volksliedes „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Eichbergs Musik, souverän dirigiert von Wiesbadens Chordirektor Albert Horne, verschmilzt Anklänge an Verdi, an Weill und Gershwin, an Minimal Music, Rock und orientalische Musik zu einem durchaus gegenwärtig wirkenden Bühnenstil.
Anders als die Mahagonny-Oper tendiert „Schönerland“ indessen zu einer Dramaturgie, die Weill „statuarisches Theater“ nennt. Bühnenbildner Volker Hintermeier baut eine zweigeschossige Arena, deren obere Ebene mit dem Erdgeschoss durch eine abschüssige metallene Rampe verbunden ist. Einige Klettergriffe gestatten ein mühsames Hinaufklimmen. Auf der unteren Ebene bewegen sich die Flüchtlinge, verkörpert durch den Opernchor und einige Solisten, die ausgewählte Flüchtlingsschicksale und Menschentypen darstellen. Neben der erwähnten Kader („Das Schicksal“) sind dies Saida / Die Glückliche (Eleni Calenos), Dariush / Das-Gute-Festhalten (Aaron Cowley), Aliyah / Die Erhabene / Frieden (Romina Boscolo) und Omid / Die Hoffnung (Florian Küppers). Auf der oberen Ebene stehen mehrere unansehnliche Metallcontainer. Einer von ihnen öffnet sich bisweilen, und man bemerkt eine Art Mischung zwischen Intendantenbüro und Requisitenkammer. Hier residiert das ironisch gefärbte Künstlertrio aus eitlem Intendanten (Thomas de Vries), weltfremdem Komponisten (Erik Biegel) und bemüht-hilfloser Stückeschreiberin (Britta Stallmeister), das sich an entscheidenden Stellen an die Flüchtlinge wendet. Zwischen den Ebenen bewegen sich zudem ein Frauen- und ein Männertrio, deren Rolle zwischen weiteren Flüchtlingen, Schleppern und Kommentatoren changiert. Alle Darsteller agieren sehr präsent, sicher und engagiert.
Von einer eigentlichen Handlung kann man nicht sprechen; nur einzelne Flüchtlinge berichten ausschnittsweise Erlebtes. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Arena als Präsentationsort. Sie entpuppt sich als eine surrealistische Art von Vorhölle, deren Hauptfunktion das Warten ist. Die Flüchtlinge warten hier mal auf die Schlepper, mal auf die Aufnahme ins Gastland, mal auf persönliche Zuwendung, mal auf bessere Zeiten überhaupt. Die Schlepper ihrerseits warten auf Flüchtlinge, und auch die Künstler tun das. Denn das ist wohl doch die eigentliche Pointe des Stücks: Intendant, Komponist und Stückeschreiberin entpuppen sich als Trio Infernal, das in einer Art Casting nach den besten Flüchtlingsdarstellern sucht. Wie man im Theatermagazin nachlesen kann, ist diese Idee inspiriert von Konstantin Richters Roman „Die Kanzlerin. Eine Fiktion.“, in dem ein Vorzeige-Flüchtling gesucht wird. Das Produktionsteam spinnt diese Idee weiter zu einer zentralen Szene, in der der Schauspieler Feras Zarka als „Der Syrer“ in stockendem Deutsch Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ vortragen muss – begleitet von höhnischen Kommentaren des Chores. So wirklich passend ist das auch als Karikatur nicht; schließlich spricht das Gedicht nicht aus der Perspektive eines radebrechenden Flüchtlings, sondern aus der eines reflektierenden deutschen Exildichters.
Nun es ist ja in der Tat so, dass die mediale Präsentation und Repräsentation in der Wahrnehmung politischer Entwicklungen und menschlicher Schicksale eine zentrale Rolle spielt. Dass im Medienbetrieb unter dem Anstrich der Betroffenheit und Nächstenliebe eine gehörige Portion Profitgier und Zynismus waltet, hat etwa kürzlich Armin T. Riahis satirischer Spielfilm „Die Migrantigen“ am Beispiel einer fiktiven Wiener Sendeanstalt treffend aufgespießt. Doch von allen darstellerischen Sparten hat sicherlich das Musiktheater am wenigsten einen direkten Einfluss auf Flüchtlingsschicksale. Eichbergs und Schmidts Intendant, Komponist und Stückeschreiberin sind als Drahtzieher nicht wirklich glaubhaft, und ihre Popanz-Rolle kontrastiert merkwürdig zu den mit einigem Opernpathos aufgeladenen Flüchtlingsfiguren.
Die selbstironische Sicht der Wiesbadner Theatermacher ist zwar nicht unsympathisch. Doch von Brecht und Weill und ihrem kongenialen Bühnenbildner Caspar Neher hätte man lernen können, dass auch Opernfiguren sich in einer gesellschaftlichen Situation befinden. Von den wirklich Mächtigen im Leben der Flüchtlinge erzählt „Schönerland“ nicht – nicht von Nachrichtenmachern und politischen Entscheidungsträgern, auch nicht von überforderten Bürokraten oder böswilligen Internet-Hetzern. Daran, dass Eichbergs Oper sich auf einen unbedeutenden Nebenschauplatz verirrt, daran hat die Theater- Entwicklung der letzten 30 Jahre allerdings einen großen Anteil. Lange genug hat sich das Theater auf dekonstruktive, im besseren Fall selbstreflexive, im schlechteren Falle narzisstische Spielereien zurückgezogen und damit letztlich Margret Thatchers neoliberalem Credo „There‘s no such thing as society“ von 1987 Vorschub geleistet. Inzwischen hat das Leben aber weiter Geschichte und Geschichten geschrieben, und unsere Gesellschaft ist dabei, sich zu spalten. In „Schönerland“ aber kreist die Oper weiter um sich selbst. Man hört es auch daran, dass sie am Ende kein Ende findet. Eichberg schreibt eindrucksvolle Schlussszenen – nur gleich mehrere hintereinander.