Das Badischen Staatstheater Karlsruhe zeigt mit einem musikalisch und szenisch packenden Propheten, warum Giacomo Meyerbeer auf unsere Spielpläne gehört.
Giacomo Meyerbeers „Prophet“ ist ganz großes Opernkino. Der Fünfakter war lange Zeit das, was man heute Blockbuster nennen würde. Schon bei der Pariser Uraufführung am 16. April 1849 soll die zeitgleich tagende Nationalversammlung beschlussunfähig gewesen sein, weil mehr Abgeordnete in der Oper als im Parlament waren. Das waren Zeiten! So lange die Grand opéra etwas zu melden hatte, was der „Prophet“ ganz vorne mit dabei. Bis das Genre seine Möglichkeiten ausgereizt hatte und ermattete. Erst kamen Verdi und Wagner. Dann die Nazis. Was man im Falle des Vergessens von Meyerbeer tatsächlich mal in einem Atemzug nennen kann, ohne dem deutschen Großkomponisten ahistorisch zu nahe zu treten.
Die jüngste Karlsruher Neuinszenierung ist ein überzeugendes Plädoyer für den zu Unrecht vergessenen Meyerbeer. Und für seinen Propheten. Was natürlich das Gesamtkunstwerk und nicht den Titelhelden meint. Denn der ist bestenfalls ein Mittelding zwischen Täter und Opfer. Anfangs ein unbescholtener Mann mit dem Wunsch nach einem übersichtlich geordneten Leben, gerät er in den Strudel einer Zeit, die alles auf den Kopf stellt. Weil Willkürherrschaft das Problem der Welt ist, in der er lebt; und ein skrupelloser Fundamentalismus die falsche Antwort darauf.
Tobias Kratzer, der in Nürnberg mit den „Hugenotten“ schon einen anderen Meyerbeer erfolgreich auf seine Gegenwartsrelevanz hin überprüft hat, projiziert jetzt das große Helden- und Volksdrama um die Wiedertäufer natürlich in die Gegenwart. Rainer Sellmaier hat für diese Geschichte vom Aufstieg und Fall des Jean van Leyden zum Propheten eine schlichte Vorortbar mit Drumherum gebaut. Mit schlichter Bleibe nebenan, Garage und Heizungskeller darunter und einem nüchternen Basketballplatz mit Betonfreitreppe dahinter. Banlieue-Atmosphäre. Mit rumlungernden Breakedancern. Die natürlich voll aufdrehen zur Ballett-Musik. Und völlig zu recht nicht nur von ihren eigenen Fans einen riesen Szenenapplaus einfahren. Oper zum Angewöhnen. Was passt, denn die Grand opéra war auch in ihren Glanzzeiten immer auch die große Show. Im „Propheten“ etwa wurde nicht von ungefähr das erste Mal elektrisches Licht auf der Bühne einsetzt. Heute gehören große Bildschirme dazu. Über die die Hasspredigen flimmern. Oder eine Weltkugel unter der sich das Motto vom demagogischen Die-Welt-ist-Euer in ein trotziges Die-Welt-ist-unser wandelt. Oder ein Polizeiwagen, in dem die Finsterlinge (Armin Kolarczyk gibt hier als Graf Oberthal den korrupten Vorstadt-Bullen) Frauen vergewaltigen, den die zu Kurzgekommenen aber auch demolieren und dann abfackeln. Oder eine weiße Stretch-Limousine, mit der die Ideologen im weißen Hemd den als Jesus-Double mit Dornenkrone für ihre Zwecke benutzten Propheten vom Fernseh- oder YouTube-Studio zu seinen Auftritten kutschieren. Und an der kurzen Leine halten. Dass diese Wiedertäufer sich aber mit einem Schokoriegel einen Knaben dort hinein locken, der dann völlig verdattert und offensichtlich missbraucht wieder aussteigt, ist der Tick zu viel an Deutlichkeit, den man nicht gebraucht hätte, um zu verstehen, dass fanatischen Verführern und Demagogen doppelte Moral die zweite Haut ist.
Entfaltungsspielraum für die Musik
Ansonsten kommt Kratzer mit seiner szenischen Erforschung von Ursachen für Radikalisierung und mit der Analyse der Manipulations-Mechanismen über weiter Strecken stringent und überzeugend voran. Wenn er zeigt, warum sich Jean von den nach außen fundamentalistisch religiösen, eigentlich aber machtbessen skrupellosen Wiedertäufern verführen lässt, ihr Spiel mitzuspielen, dann ist das gutes, altes, ambitioniert gesellschaftskritisches Musiktheater, das auch Dank der detailfreudigen emphatischen Personenregie auf Spannung setzt und der Musik Entfaltungsspielraum lässt. Die Chöre etwa kommen nur dann aus dem Off, wenn es nicht anders geht.
Am Ende freilich, wenn die gleich zu Anfang arg gebeutelte Mutter Fidès und die zur Rache entschlossene, von Oberthal entführte Freundin Berthe wieder auftauchen, dann wird’s allzu moralisierend. Dann gibt es das große Hättest-du-doch, bei dem die Mutter ihrem Sohn am Ende verzeiht, dass er sie öffentlich verleugnet hat, aber Berthe so traumatisierte ist, dass sie sich im geschlossenen Lieferwagen erschießt. Beugt sich hier die Regie dem Gang der Dinge, die Eugen Scribe und Meyerbeer halt vorgegeben haben (nicht ohne dabei mit der musikalischen Wucht und Prachtentfaltung noch ein weiteres mal durchzustarten), so geht Kratzer am Ende der Grand opéra dann doch noch in die Falle. Mit einem Charlie-Hebdo-Titel aufzudecken, dass der Prophet eine Marionette ganz anderer Leute ist, das ist das eine. Aber dem Propheten am Ende einen großen, moralisch entrüsteten Abgang via gezündetem Sprengstoffgürtel zu verschaffen, das andere. Aber sei’s drum. Dass Avtandil Kaspeli (Zacharias), Matthias Wohlbrecht (Jonas) und Lucia Lucas (Mathisen) als Wiedertäufer eher wie Mormonen oder Scientology beim Missionieren aussehen, als nach Salafaisten beim Koranverteilen, schärft unseren Blick für Gefährdungen gleichwohl eher, als auszuweichen. Im Ganzen geht die Sache auf und kommt unserer Gegenwart näher, als einem lieb sein kann.
Dass dieser Vierstundenabend so packend funktioniert, ist zu einem großen Teil seiner musikalischen Prachtentfaltung und dem vokalen Luxus zu verdanken, der in Karlsruhe waltet (und ganz nebenbei die jüngste Berliner Meyerbeer Bemühung um „Vasco da Gama“ deutlich in den Schatten stellt). Das durchweg überzeugende Ensemble wird von einer alles überragenden Ewa Wolak als Propheten-Mutter Fidès überstrahlt. Ihre kraftvolle Tiefe und ihre Gestaltungsvirtuosität runden sich zu einem intensiven Rollenporträt, das ganz zu recht bejubelt wurde. Marc Hellers stahlkräftiger Tenor ist so konditionsstark wie der Sänger als Darsteller beweglich. Ina Schlingensiepen ist als intensiv leidenden Berthe der dritte vokale Glücksfall an der Spitze dieses eloquenten Ensembles. Grandios gelingt es Ulrich Wagner die gewaltigen Chormassen koordiniert einzufügen.
Das Badische Staatsorchester unter Leitung von Johannes Willig schließlich lässt sich auf das orchestrale Überbietungsfeuerwerk der Meyerbeerschen Musik mit Lust ein. Da werden Marsch-Pathos und Massen-Effekte ausgestellt, ohne sie zu denunzieren, da wird die Raffinesse des Zusammenspiels ebenso gepflegt wie die lyrischen Momente des Innehaltens. Es ist ein besonderes Vergnügen diesem Orchester dabei zuzuhören wie es sich immer mehr in diese Musik hineinsteigert! Am Ende ist der Jubel für alle groß und einhellig.