Kirill Serebrennikov hat an der Pariser Bastille Oper aus Richard Wagners „Lohengrin“ ein packendes Plädoyer gegen den Wahnsinn des Krieges gemacht. Zu allen Zeiten. Überall. Mit Bildern, die von Remarques „Im Westens nichts Neues“ inspiriert sind und heute im Osten Europas immer wieder neue Nahrung erhalten. Seine Einladung nach Paris erfolgte vor dem Ausbruch des Krieges – die Wirklichkeit hat die Inszenierung des seit 2022 in Berlin lebenden russischen Regisseurs inzwischen ein- oder leider sogar überholt. Die markigen Sprüche des Königs vom deutschen Reich und deutschen Schwert liefern oft eine Steilvorlage für Inszenierungen, die die Romantik der Vorlage mit der historischen Erfahrung konfrontieren. Bei Serebrennikov wirkt dieser Zusammenstoß geradezu niederschmetternd.
Opéra National de Paris: ein bitter banal bedrückender „Lohengrin“ gegen den Krieg
Hinzu kommt, dass er konsequent die Perspektive Elsas einnimmt. Die hat in dieser Inszenierung den Verlust ihres Bruders nicht verkraftet und ist in einen Zustand der Depression – ja einer Persönlichkeitsspaltung verfallen. Sie empfindet die Anklage des Brudermordes als eine Erniedrigung, bei der sie (bzw. eines ihrer beiden szenischen Alteregos) im Wortsinn entblößt zur Rede gestellt wird. Sie ist so weit von der Welt entfernt, dass sie sich ihren Retter herbei fantasiert. Man setzt sie unter Medikamente, Ortrud und Telramund tun so als wären sie Ärzte und manipulieren sie.
Wohin die Deutungsreise geht wird schon im Vorspielvideo klar. Da streift ein lebensfroher, blutjunger Mann durch einen Wald und wird immer wieder zärtlich von einer Hand berührt. Wenn er seine Militärkluft ablegt und für ein kurzes Bad nackt in einen See springt, sieht man große Schwanenflügel-Tattoos auf seinem Rücken. Dazu bewegt er sich so anmutig wie ein Schwan. Die traurig hoffnungslosen Blicke am Ende gehen wohl in Richtung seiner Schwester. Gottfried als Rekrut oder Soldat auf Kurzurlaub daheim?
Der Fall Elsa von Brabant
Elsa jedenfalls verkraftet die erzwungene Trennung nicht. Die Welt wird ihr zu einem Alptraum, dessen Zumutungen sie sich mit eigenen herbeifantasierten Gegenwelten zu erwehren versucht. In den kargen, nebeneinander liegenden Räumen, in denen der erste Aufzug wie ein Kammerspiel mit surrealen Elementen spielt, verschieben sich die Wände wie bei Edgar Allan Poe, immer wenn der Mord-Prozess Elsa bedrohlich in die Zange nimmt. Sie weiten aber den mittleren Raum auch wieder, wenn Lohengrin in Elsas Geist erscheint. Begleitet wird er von zwei Schwanenhälften in Gestalt attraktiver Tänzer mit nacktem Oberkörper und je einem Schwanenflügel. Auch Lohengrins Uniform ähnelt der ihres geliebten Bruders. Für Elsa verschwimmt die Erinnerung an den beweinten Bruder mit der imaginierten Gestalt ihres Retters. Wie eine Marionette bewegt sie zu manchen von dessen Tröstungen ihre Lippen – als kämen seine Worte aus ihr. Solche Details erinnern immer wieder daran, dass das ganze Geschehen konsequent Elsas Perspektive zeigt.
Dem Trauma ihres individuellen Verlustes fügt der zweiten Aufzug das einer heillos im Krieg versinkenden Gesellschaft hinzu. Wenn die Szene von den Telramunds zu den aufziehenden Massen wechselt, passiert das mit aller Deutlichkeit. Der Raum ist dreigeteilt und wird zu einem emotionalen Faustschlag. Links fast durchgängig auf Krieg und Sieg ausgerichtete Soldaten, die von ihren jungen Frauen besucht werden. In der Mitte ein naturalistisch wirkendes Lazarett mit Verwundeten, Verstümmelten und mit einem Orden verteilenden König, der seine Anteilnahme natürlich fotografieren lässt. Und mit Toten, die nach nebenan in eine Leichenhalle getragen werden, deren Kühlfächer längst überfüllt sind. Hier sind von Trauer gebeugte Witwen die Besucherinnen, die nur noch die Bilder ihrer Männer, Söhne oder Brüder dabei haben. Wenn Elsa eine ganze Weile zögert, ob sie Lohengrin in aller Öffentlichkeit die verbotene Frage nach seiner Identität stellen soll, geschieht in der Leichenhalle Verstörendes – da erheben sich lauter nackte junge Männer aus den Leichensäcken und verlassen den Raum …. gehen ins Licht? Verlassen die Traumwirklichkeit? Das Schauspiel wird zur zentralen Szene der Inszenierung und ihrer Botschaft!
Die Bitterkeit der Banalität
Im dritten Aufzug gibt es zum Auftakt eine ganze Reihe von schnell inszenierten Kriegshochzeiten. Die Freude des Augenblicks überdeckt bei den Brautpaaren kaum die Angst vor dem, was kurz danach mit den Männern passieren könnte. Serebrennikov liefert durchweg starke, allgemein gültige Bilder, die zeigen, dass der Krieg alles andere als ein Gesundbrunnen in Stahlgewittern ist, und dass die Wenigen, die den Wahnsinn stoppen wollen, chancenlos sind. Einer der Brabanter versucht es immer wieder. Vergeblich.
Nach der Monsalvat-Erzählung und Ortruds Auftritt vor der Leiche ihres Mannes, präsentiert Lohengrin schließlich den „Schützer“ von Brabant, in dem er einen Leichensack öffnet: Ein junger Mann mit von Wunden gezeichneter Haut entsteigt. Hier gibt es keine Hoffnung auf die Heimkehr des Bruders. Nirgends. Im Ganzen funktioniert die Konsequenz, mit der Serebrennikov das alles aus Elsas Perspektive erzählt. Auch, wenn sie sich am Ende selbst aus ihrer Traumwelt flüchtet. Der Weg zurück ins Leben ist ihr allerdings verbaut. Die Erkenntnis, dass Krieg tödlich ist, ist so alt wie der Krieg selbst, sie wird aber Unbeteiligten selten so niederschmetternd klar wie in dieser Produktion.
Wien, Bayreuth, Paris
Musikalisch bietet die Pariser Oper puren Luxus. Das Orchester de l’Opera de Paris ist so wagneraffin und -erfahren wie die Wiener Philharmoniker. Das Ensemble ebenfalls so handverlesen, als wäre es eine Bayreuth-Besetzung. Der hauseigene Chor ist von grandioser Wucht und spielt seine Rolle als manipulierbare Masse auch dann herausragend, wenn er nur als Tableau Vivant fungiert, Lazarettbetten füllt oder an der Rampe aufmarschiert. Hier bringt Masse tatsächlich mal ein Wirkungsplus hervor. Dass der Pole Piotr Beczala einer der besten amtierenden Schwanenritter ist, hat er unter anderem in Bayreuth längst klargestellt. Er strahlt in den Höhen ohne jede Mühe, sein Glanz hat Substanz und es gelingt ihm obendrein auch noch in der Gralserzählung, die Taube ganz zart vom Himmel einschweben zu lassen. Ebenso bewährt und längst erprobt ist Johanni van Oostrum als Elsa, die hier auch darstellerisch ungewöhnlich gefordert ist: Traumwandlerisch, mit ihrer Präsenz, sicher in den Höhen und immer noch mit einem genügend jugendfrischen Timbre.
Beim dunklen Paar imponiert vor allem Nina Stemme als kraftvoll intrigierende Ortrud mit wohlartikuliertem, sattem Mezzo. Wolfgang Koch ist an ihrer Seite ein im Detail klug akzentuierender Telramund mit einem durchaus melancholischen Anflug. Der kurzfristig eingesprungene Tareq Nazmi ist ein markanter König mit dem Habitus eines modernen, aalglatten Politikers im Anzug und mit der Vorliebe für gute Bilder. Shenyang ist als sein loyaler Heerrufer ein typisches Exemplar von Mensch mit Amt und keiner Meinung. Was diese Crew und auch die kleineren Rollen bieten ist vokale Spitzenklasse und Alexander Soddy ein Dirigent mit Sinn für die romantischen Bögen und den großen Effekt. Die schiere Größe der Bastille machen sie allesamt zu einem Vorzug für die musikalische Prachtentfaltung. Der Jubel für die Protagonisten kommt entsprechend ungeteilt. Für das Regieteam gibt es – wagnerüblich – auch ein paar kräftiges Buhs. Leicht benommen geht es danach in die spätsommerliche Nachtluft von Paris.
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