Wenn es für Produktionsengpässe und musikalische Lieferkettenunterbrechungen der Pandemie eine emblematische neue Oper gibt, ist diese „opera! opera! opera! Revenants and Revolutions“ von Thomas Köck und Ole Hübner. Als vollständige Aufführung hätte die Koproduktion der Oper Halle und der Münchener Biennale für Neues Musiktheater 2020 ein satter 150-Minüter und die bisher massivste Choroper des 21. Jahrhunderts werden können. Stattdessen kam es zur „operativen Installation“ des bitteren Sujets in der riesigen UTOPIA-Halle München: Der breit geschwungene Abgesang auf eine große Kunstform in bezwingenden Arrangements.
Nur zwei Tage hatte Martin Miotk, um die 70 Meter lange und 17 Meter breite UTOPIA-Halle mit Figuren-Aufstellern, Politiker- und Publikumspuppen, Screens, Boxen, Zeichen, Filmen und Texten zu füllen. Je Durchgang konnten etwa 40 Besucher im Raum wandeln oder sitzen. Zahlreiche Konzepte hatte der vom Regisseur zum ‚Animateur‘ mutierte Michael von zur Mühlen seit 2018 bis zur Premiere am Mittwochabend ent- und verworfen. Der 2020 vorzeitig von den Bühnen Halle nach Kassel geschiedene Opernintendant Florian Lutz wollte „opera! opera! opera!“ nicht mitnehmen, obwohl das Stück ganz ausgezeichnet in die Orangerie der Documenta-Stadt passen würde. Als Glücksfall erwies sich, dass ein gutes Drittel von Ole Hübners gewichtiger Partitur mit Soli, den Chorkollektiven und der Staatskapelle Halle im September 2020 von MDR Klassik aufgenommen werden konnte. Ein physischer und künstlerischer Kraftakt in deutscher Sprache mit englischen Übertiteln von Anna Galt. Aufführungsideen, interaktive Formate und Installationen – unter anderem eine besonders triftige für die Münchner Kammerspiele – zerschlugen sich, bis die „dynamisierte Festivalausgabe“ der Münchener Biennale mit ihrem flexiblem Timeloop von 2020 nach 2022 doch noch etwas ermöglichte.
Diese hoffentlich nur zwischenfristige Installationsvariante erweist sich für das Sujet und seine Visualisierung als bestens geeignet. Das Raunen der digitalen Psycho-Scans aus einer entoperten Zukunft und die tastenden Versuche eines Cyborgs zum Erkunden des Menschseins macht zutiefst bewegenden Eindruck. Wer hätte noch vor wenigen Monaten gedacht, wie nah uns diese sagenhaft dynamische Form gehen könnte? Die zusammengesunkenen Pappmache-Figuren von Macron, Merkel und Putin nebst den vielen anderen Abonnenten-Leichen, die Digitalausgabe des Opernhauses von Palermo und der Schmuckcover-Titel eines „Festlichen Opernabends“ à la Deutsche Grammophon aus lang vergangenen Zeiten. Diese 60 Minuten haben die rauschhafte Opulenz eines vorgestrigen Opernabends und etwas gespenstisch Beklemmendes. Fotografieren erlaubt. Ole Hübner komponierte für die in Halle bereitgestellten Personalressourcen eine jubelnd untergangsselige Musik mit Peng und Pathos. Musik als Summe von Orgie und Orkus, schönheitssüchtig und rauschhaft, stellenweise sogar tonal. Die Bebilderung dazu passt. Der zeitgleich in Weimar beim Festival Passion :SPIEL wirkende Martin Miotk zeigt in Aufstellern und Projektionen grell maskierte, knallbunt gekleidete Figuren als frühere Identitäten der elektronisch gesampelten Chorsänger:innen. Deren Welt: Ein Rummelplatz mit Geisterbahn und Achterbahn.
Das sich Aufgaben und Verantwortlichkeiten mit diffusen Schnittstellen teilende Kreativ- und Produktionsteam hatte sich nicht mit Houellebecqs „Möglichkeit einer Insel“ auseinandergesetzt, aber das Raunen der verlorenen Seelen aus ihren digitalen Avataren gemahnt an den Untergang unserer Zivilisationen in diesem Roman. Nur an einer Stelle kommen die Filmbilder zum Stillstand, wenn der Chor der digitalen Jenseitigen sich an den Aufruf zum Freiheitskampf aus Aubers großer Oper „Die Stumme von Portici“ erinnert. Dieser im Stückkontext positive Aufruf gilt einem Kriegsgeschehen, das man jetzt nicht bebildern kann noch will.
Der akustisch immer verfremdete Cyborg ist Countertenor (Michael Taylor). Was sonst? Wie die Undinen und Seejungfrauen will der elektronische Protagonist das Wesen der menschlichen Psyche erkunden – in ihrer idealen Gestalt. Das ist die Opernprimadonna mit großen Augen auf irritierender Schamanen-Maske. Sie geistert in Animationssequenzen durch das Teatro Massimo und dominiert auch den Vorraum zum apokalyptischen Dokumentarkino als stehende Puppe: Ein bisschen Trash, ein bisschen Gaga und ein bisschen ordinär. Michael von zur Mühlen und Martin Miotk haben ihr das lindgrüne Tüll-Kleid und die Kastanienlocken der legendären Koloraturvirtuosin Joan Sutherland verpasst, auf dass sich Realitätsabguss und Visionäres desto grotesker verzerren.
„Opera und ihr Double“ fügt sich zum Gesamtkunstwerk und einer Fantasie aus digital-elektronischen Klängen, Echos und Akkord-Katarakten. Betreffend Ausdrucksdimensionen ist das UTOPIA für diesen apokalyptischen Wellenbrecher der Hochkultur keineswegs zu groß. Pompös und pathetisch darf diese apokalyptische Séance auch deshalb sein, weil sich immer wieder traurig Verspieltes in die Inflation der Reize mischt. Da posiert in den Videos der Tenor Robert Sellier als dunkler Dandy im Parkett, unterscheiden sich glatzköpfige Leiber nicht von Schaufensterpuppen und Hübners Musik rauscht dazu. Schade, dass man durch die Strichfassung von Thomas Köcks dramatischem Konstrukt nicht allzu viel versteht. Trotzdem fügt sich das Vorhandene zum schaurig schönen Abgesang auf die unmögliche Kunstform Oper und den Homo Novus an den Synapsen zwischen physischer und digitaler Passform: Hübner, Köck, von zur Mühlen und Miotk bastelten ein Kunstwerk der nahen Zukunft ohne Geniekult, ein Work in Progress der unheimlichen Art. Zur Premiere konnten weder der Autor noch der Dirigent Michael Wendeberg noch der mit dem Deutschen Musikautor*innenpreis 2022 in der Kategorie „Nachwuchs“ geehrte Komponist kommen. Auch durch eine Eröffnung, die weder richtige Premiere noch Vernissage im Wortsinn sein konnte, markieren die Entstehung und multiple Realisierung von „Opera und ihr Double“ den Beginn einer neuen dramatischen Epoche post coronam.